Die Eiszeit sei vorüber

■ Der PEN-Club hat einen neuen Präsidenten, aber viele alte Probleme

Möwen gleiten über den dunstigen Landwehrkanal, und Mädchen in braunen Steppjacken tragen Geigenkästen unter dem Arm. Es ist ein stiller, meditativer Novembermorgen, Totensonntag in Berlin.

Frisch, aber nicht frostig. Frisch und geschäftig geht es auch im eleganten Literaturhaus in der Fasanenstraße zur Sache, wo sich der westdeutsche PEN-Club zur außergewöhnlichen Mitgliederversammlung zusammenfand, die durch den Rücktritt des bisherigen Präsidiums um Ingrid Bacher nötig geworden war. Ungewöhnlich rasch haben die Anwesenden schon bis zum frühen Nachmittag den größten Teil des selbstverordneten Tagespensums hinter sich gelassen und den emeritierten Kölner Literaturprofessor Karl Otto Conrady zu ihrem neuen Präsidenten gewählt. Als Vizepräsidenten amtieren nunmehr Friedrich Schorlemmer, der Hörspielautor Wend Kässens und die Slawistin Elsbeth Wolffheim, die zukünftig für die „Writers in Prison“ zuständig sein wird. In den Beirat wurden Christa Dericum, Jörg Drews, Klaus Staeck und Hans-Georg Noack sowie Herbert Wiesner, der Leiter des Berliner Literaturhauses, gewählt.

So weit, so gut. Der PEN-Club ist ein Verein, und er hat eine neue Leitung – mehr wäre dazu eigentlich nicht zu sagen gewesen, hätte es da nicht noch den sechsten Punkt der Tagesordnung gegeben: die Wahl der Kommission zur Vorbereitung des Zusammenschlusses von Ost- und West-PEN. An dieser Stelle brach doch noch Streit entlang der bekannten Fronten aus.

Die Kommission, die die Modalitäten der Vereinigung der beiden ungleichen Organisationen ausarbeiten soll, ist zwar lediglich eine „technische“ Kommission, die vor allem vereinsjuristische, formale Fragen zu klären hat. Wann, wo und wie die Vereinigung stattfindet, entscheidet sie nicht, und eine paritätische Ehrenkommission, die Kriterien für den Umgang mit besonders belasteten Ost-PEN-Mitgliedern benennen soll, existiert bereits. Aufgeräumt betonten denn auch Befürworter der Vereinigung wie Günter Grass, daß die Wahl der Kommission nur Bestätigung des Mitgliedervotums sei, und appellierten an die noch zögerlichen Kollegen, man möge doch bitte die Chance, mit einem ersten Arbeitsergebnis der Kommission im Frühjahr in Quedlinburg zu tagen, nutzen. Die Vereinigungsgegner aber sahen ihre letzte Möglichkeit gekommen, das Unausweichliche aufzuhalten oder wenigstens noch etwas herauszuzögern. Zum ersten Streitpunkt geriet so die Frage der Wählbarkeit der sogenannten Doppelmitglieder, also jener, die in beiden PEN-Zentren eingetragen sind. Dem Appell von Herbert Wiesner, Doppelmitglieder sollten von sich aus auf eine Kandidatur für die Vereinigungskommission verzichten, folgte ein kurzer, geschäftsmäßiger Schlagabtausch.

Klaus Staeck hob noch einmal hervor, daß Doppelmitglieder wie er keiner homogenen Gruppe zuzurechnen seien, befand sich dann aber selbst vorsorglich für zu befangen für das Amt – Grund genug für Hans-Christoph Buch, der „Scheinharmonie“ im Saal wegen seinen Austritt zu erklären und denselben zu verlassen.

Insgesamt aber wirkte die PEN- Gesellschaft, als sei sie der langen Selbstzerfleischung überdrüssig geworden. Die Argumentierenden agierten wie Schauspieler, die seit Jahren und bei schwindendem Publikumsinteresse das immer gleiche Stück auf die Bühne bringen: eingespielt, aber auch ein bißchen lustlos. Die Literaten sind das Leiden an sich selbst satt, doch die Mahnung, mit Fortsetzung der Debatte drohe eine „Verprovinzialisierung des PEN“, sie wirkte verspätet angesichts der Tatsache, daß die Welt draußen vor den großen Fenstern der Berliner Literaturvilla kaum noch Notiz nehmen mag von diesen Schrifststeller- Schaukämpfen.

Die Frage der Doppelmitglieder in der Vereinigungskommission löst sich am Ende dann ohnehin von selbst, weil sich kaum ein Vorgeschlagener überhaupt wählen lassen mag; in der ersten Runde lehnen gar alle Kandidaten ab. Schließlich werden Dieter Lattmann, Gerhard Schönberner, Irina Liebmann und, als Jurist, Adalbert Podlech in die Kommission gewählt.

Conrady spricht ein pastorales Schlußwort, und alle trollen sich. Es ist schon dunkel, und auf dem Kurfürstendamm erstrahlt bereits die erste spärliche Weihnachtsbeleuchtung, währenddessen vor der KPM-Filiale ein Xylophonspieler klöppelt. Das Leben geht weiter, und die „Tagesschau“ wird berichten, die „Eiszeit“ sei nunmehr vorüber. Daniel Bax