Wer kotzt, springt weiter

Vor dem Saisonauftakt in Lillehammer ist in Skandinavien die Diskussion um das Anorexie-Problem der Skispringerszene wieder neu entbrannt  ■ Von Reinhard Wolff

Oslo (taz) – Im Februar 1993 holte sich der Skispringer Öyvind Berg im schwedischen Falun mit der norwegischen Mannschaft Weltmeisterschafts-Gold. Unmittelbar vor dem Saisonauftakt am Samstag in Lillehammer hat der 25jährige seine sportliche Karriere abgebrochen. Er hatte genug vom Fasten und Kotzen. Um weiter Fördergelder als Nationalmannschaftsspringer zu bekommen, hätte Berg ein Papier unterschreiben müssen, das der norwegische Nationaltrainer Trond Jöran Pedersen als „Zielmarke“ bezeichnet. Berg hat es als „Fastenvertrag“ aufgefaßt. Wesentlicher Inhalt des Papiers: ein Kampfgewicht von höchstens 70 bis 71 Kilo. Das sind etwa fünf Kilo unter dem Normalgewicht des Skispringers.

Berg wollte sich nicht mehr der Tortur der vergangenen Jahre aussetzen: „Um auf das geforderte Gewicht herunterzugehen, hörte ich fast auf zu essen, kotzte heraus, was ich gegessen hatte – mit dem Erfolg, daß ich tatsächlich weiter sprang.“ Vor allem seit der V-Stil sich bei den Skispringern durchgesetzt hat, kommt es auf jedes Kilo an, das der Springer nicht zwischen die aufgespreizten Skier bringt. Die Faustregel: Je kleiner und leichter der Springer, desto weiter der Flug. Das ist ein Effekt, den der Internationale Skiverband (FIS) durch Vorschriften über die weit rückgesetzte Plazierung der Bindungen auf den Sprungskiern und die Beschränkung der zugelassenen Skilänge noch verstärkt hat.

Worüber die Skispringer schon lange munkelten, damit ging Berg nun an die Öffentlichkeit: „Fördert dieser Sport planmäßig Anorexie, Bulimie und alle psychologischen Auswirkungen dieser Krankheiten?“ Das ist eine Frage, die der Erfinder des V-Stils, der Schwede Jan Boklöv, bejaht: „Es hat da eine ganz falsche Entwicklung eingesetzt, auf welche die FIS dringend reagieren müßte.“

Boklöv denkt an ein Mindestalter von 18 Jahren bei internationalen Meisterschaften und eine Verlängerung der Sprungskier. Derzeit dürfen diese nur 80 Zentimeter länger als der Springer sein, was junge und kleine Springer bevorzugt. Der erfahrene Boklöv bringt auch die Einführung von Gewichtsklassen ins Spiel, analog zum Boxen oder Ringen.

Daß nicht schon lange etwas geschehen ist, führt der Norweger Torbjörn Yggeseth auf den Widerstand der mitteleuropäischen Länder zurück. Die Verbände Deutschlands, Österreichs, Tschechiens und Polens seien es, die trotz des Wissens um die sich ausbreitende Anorexie unter Skispringern nichts tun wollten. „Diese Länder haben in den letzten Jahren enorm und gezielt in kleinwüchsige und dünne Springertalente investiert“, sagt der Skisprungchef der FIS, „würden jetzt neue Regeln kommen, wären da viele Millionen hinausgeworfen worden.“ Auch Schwedens Nationalmannschaftstrainer Pär-Inge Tällberg ist der Meinung, die Alpenländer seien schuld, daß man immer noch keine Regeln geschaffen habe, die 12jährige 30-Kilo- Burschen von internationalen Meisterschaften ausschließen.

Vermutungen, man wolle in Skandinavien nur deshalb Regeländerungen, weil man weniger erfolgreich beim Versuch war, auf Minispringer umzustellen, weist Tällberg zurück: „Es darf nicht sein, daß nur der in einem Sport erfolgreich sein kann, der sich selbst krank macht.“ In Finnland hat man dem Vernehmen nach das Anorexie-Problem auf eine andere, nicht weniger zweifelhafte Weise gelöst. Hier soll es eine Art genetische Auswahl geben. Nicht das, was ein junger Skispringer an Talent auf die Schanze bringt, ist ausschlaggebend für eine Aufnahme in die Sportförderungsprogramme und nationalen Trainingslager, sondern was er an vererbter Körperstatur in den Genen mitbringt. Zu große Eltern oder Großeltern machen von vornherein einen Strich durch die erhoffte Skisprungkarriere.