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Die Kieztouristen vertreiben die Kiezbewohner

■ Mieten am Kollwitzplatz in Prenzlauer Berg explodieren. Kleine Geschäfte, Projektläden und kulturelle Einrichtungen können nicht mithalten und geben auf

Ein Fischgeschäft fehle. Ein Fleischer. Eine kleine Konditorei. Ein Kurzwaren- und ein Spielzeugladen. Der Schuster an der Ecke, sagt Ursula Treu, sei auch schon weggezogen. Mit den vielen Kneipen, die nach der Wende am Kollwitzplatz aufgemacht haben, könnten ältere Leute wie sie nichts anfangen. „Das sind Gaststätten für Touristen. Wir Anwohner können uns gar nicht leisten, da reinzugehen.“ Ursula Treu wohnt seit 40 Jahren in Prenzlauer Berg, in der Wörtherstraße, direkt am Kolle. Sie kennt ihren Kiez.

Der Kulturladen in der Kollwitzstraße 93 wird am 13. Dezember schließen. Der Laden des Vereins „Projekte am Kollwitzplatz“ in Nummer 66 am 20. Dezember. Der Infoladen des Vereins „Netzwerke“ gleich nebenan am Jahresende. Die Kinderbibliothek in der Wörtherstraße hat eine Schonfrist bis Juni 1998. Eine Luxusgegend werde der Kollwitzplatz, sagt Manfred Raquet vom Kulturladen. Nilson Kirchner von der Betroffenenvertretung sieht die Verdrängung vor allem der kleineren, der alteingesessenen Läden.

Die Gewerbemieten am Kolle sind in den letzten Jahren drastisch in die Höhe geschossen. Die Vermieter verlangen schon mal zwischen 40 und 50 Mark pro Quadratmeter. Grund ist die gestiegene Popularität des Kolle-Kiezes als Szene-Kiez. Mehr als hundert Kneipen gibt es inzwischen, hundertmal mehr Touristen jeden Abend, und ein Ende des Kneipen- und Touri-Booms ist nicht abzusehen. Verlierer der Entwicklung sind die kleinen Gewerbetreibenden und die kleinen Kulturinseln. Weil „Netzwerke e.V.“ den neuen Quadratmeterpreis von 35 Mark (bisher 12 Mark) nicht zahlen kann, „blieb uns gar nichts anderes übrig, als den Laden aufzugeben“. Der Treffpunkt für Kiez- Veranstaltungen aller Art wird nicht nur Nilson Kirchner fehlen.

Dem Kulturladen in der Kollwitzstraße 93 erging es ähnlich. Der Mietvertrag lief aus, eine Verlängerung wäre nur zu einem weit höheren Preis möglich gewesen. Jetzt zieht der Kulturladen um, in die Schönhauser Allee 73. Möglichkeiten für Ausstellungen wie bisher wird es dort nicht mehr geben. Das Bezirksamt Prenzlauer Berg hat für die weitere Betreibung der Kinderbibliothek vorerst einmal den neuen Mietpreis akzeptiert. „Bisher haben wir für 28 Quadratmeter monatlich 3.000 Mark Miete gezahlt, jetzt sind es 7.000 Mark“, sagt Holger Hackmann, Bibliotheksamtsleiter. Weil erst im Juni 1998 die Ersatzräumlichkeiten in der Schönhauser Allee 165 zur Verfügung stehen, wurde vom Bezirk die Verlängerung des Mietvertrags genehmigt. „Auf ein Provisorium wollten wir uns nicht einlassen.“

Fest steht, daß aus dem ehemaligen Kulturladen in der Kollwitz 93 ein Kulturcafé wird. Der Mietvertrag zum Januar 1997 ist bereits unter Dach und Fach. Für das Objekt Kollwitz 66, sagt Nilson Kirchner, laufe auch schon das Genehmigungsverfahren für einen französischen Spezialitätenladen mit Ausschankgenehmigung. Jens Rübsam

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