: Hat da jemand Angst vor Antworten?
■ betr.: „War Jesus Jude oder Feminist?“, taz vom 15.11. 96
Die von der neuen Partei „Die Frauen“ organisierte Konferenz „Frauen und Antisemitismus“ scheint oft das Politische des Antisemitismus ignoriert zu haben. Es wurde zum Beispiel berichtet über die angeblich jüdische Schuld im Patriarchat sowie von Jesus als erstem „neuen Mann“, der Maria Magdalenas Weisheit vor seinen männlichen Aposteln lobt. Dabei wurden die politischen Realitäten dieser vergangenen Ära übersehen. Die Entwicklungsgeschichte des Judaismus ist – wie alle gesellschaftlichen Entwicklungen im Nahen Osten seit Urzeiten – eine kochende Mischung aus Religion und Politik. In diesem Fall hat die siegende priesterliche Klasse (die arischen Leviten) versucht, die matriarchalischen semitischen Stämme zu bezwingen (ganz erfolgreich sind sie nie gewesen, da zum Beispiel das Jüdischsein bis heute ein Muttererbe ist). Jesus kann als semitischer Populist gesehen werden, der die alten Werte des jüdischen Volkes vertritt und dadurch Widerstand leistet. Doch wurde er so nicht gesehen, weil die Römer die Lebensbedingungen derjenigen bestimmten, die diese Geschichte geschrieben haben. Was bis heute gilt: Die Geschichte – und so das Bild ihrer Akteure – definiert immer der Sieger.
So ist es auch mit der Geschichte des Antisemitismus. Wer profitierte und profitiert von ihm und auf welcher Ebene? Die Erklärungen der Konferenzbeteiligten auf familiärer und psychologischer Basis sind gewiß wichtig, aber Tatsache ist, die aktuellen Formen des Antisemitismus erfüllen in Deutschland eine politisch stabilisierende Funktion in Zeiten ökonomischer Krise. Ein Volk, das „die Schnauze voll von Schuldgefühlen“ hat, hat auch die Schnauze voll von Arbeitslosen, Obdachlosen, alleinstehenden Müttern ... – kurz, von allen, die das System, dessen Maxime Profit (oder „Standort Deutschland“) ist, als überflüssig und unrentabel ausspuckt. So ein Volk findet seine ideelle Gemeinschaft unter anderem in der Reaktivierung antisemitischer Muster, während es auf materieller Ebene, im Konsumieren und Konkurrieren ein/e jede/r gegen jede/n, sich selbst spinnefeind ist. Bonnie J. Gordon, Berlin
Man kann sich wirklich schon eine Menge feministischer Rabulistik abringen... So jedenfalls erlebe ich es mitunter in der von mir ansonsten favorisierten taz. [...]
Unter dem Motto „War Jesus Jude oder Feminist?“ zerknirscht sich Erica Fischers Gemüt höchst sorgenvoll: Es trieft vor Betroffenheit und Mystik. Jede Art der sachlichen Analyse wird in den Zirkel des Antisemitismus verlagert. Die moralische Keule verbietet jede Frage. Auch eine solche: „Wir müssen uns doch fragen, wie es passieren konnte, daß dieses Volk so viel Haß auf sich gezogen hat.“ Zitat Ende und Spot an: Wer so fragt, kann nur antisemitisch gestimmt sein. – Erschrocken über diesen Dogmatismus, darf man in der taz – vielleicht sogar ohne die eben zitierte Unterstellung – aber doch noch anmerken, daß es schon in der DDR nicht gerne gesehen wurde, bestimmte Fragen zu stellen. Es ging gar nicht um die Antworten – schon die Fragen wurden diffamiert. Wenn ein solches Zensur- und Denkverbot in Zukunft weiter um sich greift, ist jeder Mystik im Denken Tür und Tor geöffnet. Es ist nicht, was nicht sein darf. Die Nazis haben bestimmt, daß die Juden zu hassen und zu vernichten sind. Wir legen fest, daß wir zum Thema keine Fragen stellen dürfen, obwohl es doch um die Antworten geht. Oder hat da gar jemand Angst vor Antworten? Dann frage ich nach dessen verdecktem Antisemitismus? Schlummern da gar Ängste, die viel fataler sind als jede sachliche Auseinandersetzung? Aus unterwürfiger Kritiklosigkeit entsteht sehr leicht ein neuer Antisemitismus – nur aus Wissen kann Verständnis wachsen. Daß diese Annäherung nicht ohne Schmerzen bleiben kann, gilt für beide Seiten – immer nur politisch korrekte Schmerzstiller bringen niemanden weiter. Oder man bevorzugt eine aseptische und nicht gelebte Beziehung zwischen Juden und Nichtjuden – das nun wäre am wenigsten zu wünschen. Astrid Kuhlmey, Berlin
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