piwik no script img

Auf königlichen Treiberpfaden

In Spanien berufen sich Hirten und Viehzüchter auf Rechte aus dem 7. Jahrhundert. Auf den 125.000 Kilometer langen „canades reales“ ziehen sie mit ihren Schafen durch das Land  ■ Aus der Estremadura Monika Rößiger

Die Glocken am Hals der Hammel verstummen. Zweitausendfünfhundert Schafe weigern sich, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Denn der Himmel schickt Sintflut. Das schmutziggraue, verfilzte Fell der Merinos hat sich wie ein Schwamm vollgesogen und lastet nun schwer auf ihnen. „Venga, venga!“ brüllen die Hirten und schwingen fluchend ihre Stöcke. Auch zwei gnadenlos schnappende schwarze Schäferhunde versuchen, die Herde wieder auf Trab zu bringen. Vergeblich. Eng aneinandergeschmiegt, die Ohren abgeklappt, harren die Schafe aus. Stau auf der granitgepflasterten Römerstraße Ruta de la Plata, am Fuß der Berge Tras la Sierra.

Seit drei Wochen schon ziehen die Hirten mit ihren Tieren in Richtung Süden. Von der Sommerweide im kantabrischen Gebirge ins 500 Kilometer entfernte Torrejón el Rubio. Doch bis sie ihr Zuhause in der Estremadura erreichen, stehen ihnen noch mindestens zwei Wochen bevor. Bei Regen, Kälte und Wind. Über steinige und verschlammte Pfade, durch Rinnsale und Bäche.

Als die Sintflut abebbt, zieht die Herde weiter. Unter Glockengebimmel erklimmen die Schafe einen 400 Meter hohen Paß und zerstreuen sich kräuterrupfend zwischen Granitblöcken und Ginstersträuchern. Die fünf Hirten postieren sich wie Murmeltiere auf Felsen, um den Überblick zu behalten. Ganz oben thront Cesario Rey. „Toma, toma, brrr!“ ruft der rundbäuchige Oberhirte und dirigiert mit fuchtelnden Armen sein Glockenorchester. Das harte Leben als Wanderschäfer scheint dem 60jährigen mit dem weinroten Gesicht nichts auszumachen.

Die Wanderschäferei („Transhumanz“) ist eine jahrhundertealte Tradition der extensiven Viehwirtschaft. Sie verhindert Überweidung, weil sie sich der jahreszeitlichen Schwankung des Pflanzenwachstums anpaßt. Im Frühsommer ziehen die Hirten aus der südspanischen Estremadura zu den saftigen Bergweiden Nordspaniens und verbringen dort den Sommer, während die Estremadura eine ausgedörrte Steppe ist. Im Herbst wandern sie zurück, ins milde Klima der Estremadura, die nach den herbstlichen Regenfällen ergrünt ist und ausreichend Futter für das Vieh bietet. Im nächsten Frühjahr beginnt die Wanderschaft von neuem.

Nachts kommt die Herde im Pferch eines Gutshofs unter. Die Besitzer laden die Hirten ein, in der Scheune zu schlafen. Das erspart ihnen den Zeltaufbau und weckt bei den Gastgebern, einem Ehepaar Anfang 40, nostalgische Erinnerungen. „Als Kinder haben wir die Transhumanz regelmäßig erlebt.“ Bis in die 70er Jahre zogen die Herden sogar durch Madrid, über die acht Kilometer lange Hauptstraße „La Castellana“, erzählen sie und servieren Kaffee in der Scheune. Zum Abendessen – im Schein einer Gaslampe – sitzen die Hirten dann auf Mehlsäcken um zwei rote Kochtöpfe herum. Es riecht nach Hammelfleisch, Möhren und Kartoffeln.

Am nächsten Morgen weckt uns Cesarios bellendes Rufen. „Arriba, auf ihr Faulpelze!“ Es ist noch dunkel. Schemenhaft erkenne ich den Chef der Hirten; in seinem alten Jackett steht er kerzengerade vor seiner Matratze. Sofort schälen sich die anderen Hirten aus den Decken. Innerhalb von fünf Minuten rollen sie Matratzen und Decken zusammen und verstauen alles im Auto. Auch das Bettzeug von Cesario, denn für so was rührt der alte Patriarch keinen Finger. Während das Kaffeewasser über der Gasflamme sprudelt, waschen sich die Hirten mit dem Gartenschlauch und kämmen sich vor einem Autospiegel. Zum Frühstück gibt's Sandgebäck.

„Wenn die Kultur der Hirten untergeht“, prophezeit Jesús Garzón von der Stiftung Europäisches Naturerbe in Madrid und Initiator des Projekts, „verschwinden auch die Refugien der meistbedrohten Tierarten Europas.“ Ob Kaiseradler oder Luchs, Mönchs- oder Gänsegeier, Bär oder Wolf. „Bei uns sind die Tiere Kulturfolger, anders als in Nordeuropa“, erklärt Garzón. „In den Mittelmeerländern verändert der Mensch die Natur schon seit der Jungsteinzeit vor etwa 8.000 Jahren. Luchs und Adler zum Beispiel jagen hier vor allem Kaninchen, wozu sie eine offene Landschaft brauchen. Und wandernde Viehherden stutzen den Jungwuchs; ohne die extensive Viehwirtschaft würden die lebenswichtigen Weiden und Eichenwälder verbuschen.“

Hirten und Viehzüchter berufen sich auf Rechte, die ihnen bereits im 7. Jahrhundert vom König schriftlich verbürgt wurden. Darum heißen die grasbewachsenen Wege canadas reales, königliche Treiberpfade. Sie durchziehen die gesamte Iberische Halbinsel und sind zusammengenommen rund 125.000 Kilometer lang. Anfang des 16. Jahrhunderts zogen fünf Millionen Haustiere durch Spanien: Schafe, Kühe, Ziegen, Pferde, Esel und – auf kürzeren Strecken – auch Schweine. Heute sind es nicht mal mehr eine halbe Million. Ackerbau, intensive Viehzucht und die seit Jahrzehnten andauernde Landflucht bewirken den Niedergang der Transhumanz. Zwar sind die Flächen, über 400.000 Hektar, seit jeher Gemeingut und damit unter dem Schutz der Obrigkeit. Aber heute sind große Teile mit Straßen oder Eisenbahnlinien überbaut. Hindernisse wie Äcker und Müllhalden vergraulen auch die letzten Wanderschäfer. In Salamanca, Cáceres und Zamora, den Hauptstädten der für den Viehtrieb wichtigsten Provinzen, hat die Stiftung per Klage erreicht, daß die Behörden die Triftwege passierbar halten.

Am Vormittag trottet die Herde parallel zu einer Landstraße, bis der königliche Pfad rechtwinklig von der Straße wegführt. Über Hügel mit verdorrtem Gras, durch ein flechtenverhangenes Eichenwäldchen, über einen Teppich aus Thymian und Lavendel. Stundenlang wandern die Hirten durch eine Wolke aus Kräuterduft – die romantische Seite des Schäferlebens. Der 16jährige Antonio und der 21jährige Pablo sind die Jüngsten. Sie wuchsen auf dem Land auf und halfen schon als Zehnjährige beim Hüten. Frühaufstehen und den ganzen Tag mit Tieren unterwegs zu sein sind sie gewohnt. Bei Kälte, Nässe oder Hitze. „Mir gefällt das Wandern“, sagt Pablo. „Ich lerne neue Landschaften und Menschen kennen. Es ist ein Abenteuer.“ Seine grünen Augen leuchten, als er von den schneebedeckten Gipfeln der Sierra de Sanábria erzählt.

Trotz aller Schäferromantik – der Beruf des Hirten muß attraktiver werden. Das entbehrungsreiche Leben von einst, als die Männer wegen der Transhumanz monatelang von ihren Familien getrennt waren, ist in einer Industriegesellschaft mit 8-Stunden-Tag, freien Wochenenden und Urlaub wenig verlockend. Ziel der Stiftung ist, daß sich je vier Familien die Arbeit auf einer Farm teilen. Auf der Sommerweide in den Bergen wechseln sich die Familien beim Hüten ab, damit jede Ferien machen kann.

In der Nähe von Frades de la Sierra versperrt ein Stacheldrahtzaun den Pfad. Cesario macht den Weg für seine Schafe mit einer Kneifzange frei. Abends in der Dorfkneipe wird das Ereignis heftig debattiert. Die Wirtin schlägt sich auf Cesarios Seite, ihr Vater ist selbst Schäfer. Der Wirt widerspricht, aber steckt dem Hirten aus Solidarität doch eine Flasche Rotwein zu. An der Theke lehnt ein Mann in abgewetzter Lederjacke. „Cortar!“ sagt er, in seinem Kaffee rührend, „durchschneiden!“ Sein Wort zählt: Er ist der Bürgermeister von Frades.

Am nächsten Morgen, Sonntag früh um acht: Mit gellenden Pfiffen treiben die Hirten ihre Tiere über die Römerstraße, die von krummen Meilensteinen gesäumt ist. Trockenes Gras und kugelige Stein- und Korkeichen, so weit das Auge reicht. Das sind die dehesas, wie die savannenartige Landschaft der Estremadura heißt. Über der Herde kreisen mindestens 50 Mönchs- und Gänsegeier, Kaiseradler und andere Greife. 500 Millionen Zugvögel überwintern in den Weidegebieten und Eichenwäldern Spaniens: Kiebitze, Goldregenpfeifer, Rotmilane, Kraniche. Die extensive Viehwirtschaft schafft Lebensräume für Vögel aus ganz Europa. Die alten Treiberpfade, die als ökologische Korridore zwischen den Naturreservaten dienen, ermöglichen den genetischen Austausch zwischen Tiergruppen, die zuvor voneinander isoliert waren.

Von einer Bar aus ruft Cesario die Guardia civil an, damit sie die Straße sperrt, die den Treiberpfad auf einer Strecke von zwei Kilometern überlappt. Doch die Polizei läßt sich nicht blicken. Die Hirten müssen den Verkehr selbst blockieren. Sie versuchen es mit roten Fähnchen, quergestellten Autos und höflichen Argumenten. Doch immer wieder durchbrechen Autofahrer die Sperre, manche fluchen mit geballten Fäusten.

Plötzlich, als die Leithammel endlich den Asphalt betreten, rast ein Auto heran und bremst mit quietschenden Reifen. Fahrer und Leithammel blicken sich kurz an – und setzen, gleichermaßen dickköpfig, ihren Weg fort. „Klong!“ – die Hörner krachen in den Kotflügel. Erschrocken schaltet der Mann hinterm Steuer in den Rückwärtsgang. Die Hammel trotten unbeirrt weiter – und zweitausendfünfhundert Schafe hinterher.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen