: Gerade so, als gäb's kein Morgen!
■ Schon vor Oasis wurden Plattenbosse bei Preisverleihungen beschimpft – Gary Hermans nüchternes Buch über Skandale im Rock'n'Roll-Babel wurde neu aufgelegt
Müßte der Teufel sich einen irdischen Job suchen, er wäre wahrscheinlich ins Popbusiness eingestiegen. Dort liegt das Reich der Sünden, und es regiert die „fortgesetzte Barbarei“, wie der Rock'n'Roll noch 1956 in einem renommierten Lexikon erläutert wurde. Dem lasterhaften „Rock'n'Roll-Babylon“ ist Gary Herman auf der Spur. Etwas pseudowichtig soll in der Neuauflage des Skandalklassikers die „glanzvolle Seite des Rock'n'Roll entmystifiziert“ werden. Ein sinnloses Unterfangen, denn bei aller Bedeutung der Musik: Die Szene lebt nicht zuletzt vom Mythos.
Doch nicht nur der Anspruch des Buches ist insofern etwas witzlos, leider auch der Schreibstil des Autors, der das sehr drogenhaltige Thema ausgesprochen nüchtern angeht. Gelegentlich driftet die biedere Wortwahl aber doch ins Komische, wenn etwa orgienfrönenden Popstars vorgehalten wird, sie „verschwenden ihre billigen Gefühle, als gäbe es kein Morgen“. Ja, was denn sonst? It's only Rock'n'Roll. Trotzdem macht auch diese Lektüre nicht dümmer, denn sie verdeutlicht: Die Skandale von heute sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Von Neuheiten in dem Bereich ganz zu schweigen. Bei Preisverleihungen etwa Plattenbosse zu beschimpfen, trauten sich vor Oasis schon andere.
Ausgiebig und mit vielen Fotos werden die Altmeister der Skandalschaffe gewürdigt. Nicht nur die Stones, auch Elvis und die artigen Beatles hatten ihre Macken. Selbst die Eagles liefern Geschichten, wie sie mit Motorsägen Hotelzimmer bearbeiten. Der Autor nennt das den „Tourneekoller“. Von dem war Who-Drummer Keith Moon freilich auch in Tourpausen befallen. Wenn er gerade nicht Fernseher aus Hotelfenstern warf oder mit Feuerwerkskörpern Zimmertüren und Klobecken in die Luft jagte, stolzierte er eben als Feldmarschall Rommel verkleidet und mit deutschem Gruß durch Londoner Straßen.
Natürlich spielten beim Ausflippen meist Drogen eine Rolle. Die Liste der wegen Rauschgiftbesitzes festgenommenen Musiker ist zehnmal länger als die Bärte der ZZ Top. Mitte der siebziger Jahre sollen 90 Prozent allen verbrauchten Kokains in den USA auf das Rock- und Filmgeschäft entfallen sein. Bei einer großen Plattenfirma wurden die Ausgaben für Drogen gar unter „Kosten für Gartenpflege“ verbucht. Groupie-Geschichten gehören natürlich auch zum Skandalgeschäft. Schon Ronnie Hawkins konnte einen neuen Gitarristen für seine Band mit dem Satz rumkriegen: „Du wirst nicht viel Geld verdienen, aber mehr Pussies haben als Frank Sinatra.“
Es gab aber auch andere Wege zur Annäherung an die Idole. Ein Dylan-Fan soll stets die Mülltonnen des Meisters durchwühlt haben, um so auf die Spur des Erfolgs zu kommen. Abgesehen von solchen Episoden vergißt der Autor aber auch die wirklichen Skandale nicht. Beispielsweise wie (vor allem schwarze) Musiker von Managern und Industrie geprellt oder wie Chartslisten manipuliert wurden. Doch selbst das gehört zum Mythos Rock'n'Roll. Gunnar Leue
Gary Herman: „Rock'n'Roll Babylon, Skandale der Popmusik“. Hannibal Verlag, 317 S., 50 DM
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