Heimlich hingerichtet und irgendwo verscharrt

■ Obwohl Mitglied im Europarat, vollstreckt die Ukraine weiter die Todesstrafe. Angehörige wurden nicht informiert. Hinrichtungen gelten als Staatsgeheimnis

Berlin (taz) – In der Ukraine sind allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres 89 Häftlinge hingerichtet und in Massengräbern verscharrt worden. Mit dieser schockierenden Nachricht wartete am Freitag vergangener Woche der Vertreter des Europarats Zsolt Nemeth in Kiew auf. Der ukrainische Justizminister Sergej Holovaty bestätigte diese Angaben. Da in der Ukraine laut einem Gesetz von 1993 Hinrichtungen als Staatsgeheimnis gelten, seien die Angehörigen der Opfer auch nicht über deren Tod informiert worden. „Dieses Vorgehen ist barbarisch. Die Ukraine muß einen sofortigen Stopp der Hinrichtungen verfügen und einen genauen Zeitplan für die Abschaffung der Todesstrafe vorlegen“, sagte Nemeth. Auch die Menschenrechtsorganisation amnesty international (ai) kritisierte die ukrainischen Behörden. „Dies ist eine beschämende Anzahl von Hinrichtungen. Nur China hat in diesem Jahr mehr Gefangene exekutiert“, heißt es in einer gestern in London veröffentlichten Erklärung. ai forderte die Ukraine auf, die Praxis der Hinrichtungen sofort einzustellen.

Noch im Sommer hatte Leonid Podpalow, der Vizeverwaltungschef von Präsident Leonid Kutschmar, eine Abschaffung im Laufe der nächsten drei Jahre angekündigt. Doch die Chancen dafür scheinen im Augenblick eher gering. Zwar hat der bevölkerungsmäßig zweitgrößte Nachfolgestaat der Sowjetunion gleich nach seiner Aufnahme in den Europarat am 9. November 1995 ein Moratorium über die Vollstreckung der Todesstrafe verfügt. Doch ist dieses Moratorium bislang weder durch ein Gesetz noch durch einen Präsidentenerlaß rechtlich abgesichert. Auch das Protokoll Nr. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention über die Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten ist immer noch nicht unterzeichnet.

Einer der Hauptgegner der Ratifizierung ist der Generalstaatsanwalt der Ukraine, Grigori Worsinow. In Zusammenhang mit der Abschaffung der Todesstrafe hatte er von einem „Diktat des Europarates“ gesprochen. Das Attentat auf Premierminister Pawel Lassarenko vom 16. Juli dieses Jahres hat den Befürwortern der Todesstrafe Auftrieb gegeben. Das Engagement der westlichen Staaten gegen die Todesstrafe sei sehr wichtig, sagt Semjon Glusmann vom ukrainisch-amerikanischen Büro für die Verteidigung der Menschenrechte. „Doch der Europarat macht es sich zu leicht, wenn er die Abschaffung der Todesstrafe fordert und glaubt, dadurch würde in der Ukraine schon ein Rechtsstaat errichtet.“ Mindestens genauso grauenhaft seien die Bedingungen in den ukrainischen Gefängnissen. „Und das ist nur eine Frage der Zeit, bis die Gefangenen anfangen, sich selbst umzubringen.“ Barbara Oertel