Langer Marsch aus dem Ghetto Schule

Der „revolutionäre“ Modellversuch KidS will mit Hilfe von Künstlern die verhärteten Fronten zwischen Schülern und Lehrern aufweichen. „Die Schule ist zu wichtig, um sie nur den Lehrern zu überlassen“  ■ Von Thomas Loy

Lehrer Helmut Gewetzki ist ein gutmütiger, leicht ergrauter Schnauzbärtler. Mitten im Werkraum steht er, bedrängt von Jugendlichen mit Meißel und Zollstock, von Erwachsenen mit Notizblock und ernster Miene. „Ich hab' doch keine Ahnung von Instrumentenbau“, sagt er fröhlich schulterzuckend. Wie soll man als Lehrer auch wissen, wie aus einem Block Kiefernholz eine „Conga“, eine spezielle Trommel, gehauen wird, aus welchem Material die Bespannung ist und was das alles kosten sollte? Dafür gibt es schließlich Sven Wigger von „Heart Beat Drums“, einen drahtigen Percussionsinstrumentenbauer, der auf Handarbeit und Augenmaß schwört, während Gewetzki von Schleifmaschinen und Akkubohrern träumt. „Das ist ja eine vorsintflutliche Arbeit – das muß man doch perfektionieren“, meint der Lehrer. Wigger lacht nur.

Heute ist das Unterrichtsprojekt Trommelbau an der Ferdinand-Freiligrath-Oberschule in Kreuzberg zur Besichtigung freigegeben – wie 14 weitere Arbeitsgruppen. Grundschüler und -lehrer aus der Umgebung lassen sich die Früchte des Projekts „KidS – Kreativität in die Schule“ zeigen. Vor einem Jahr wurde das Projekt zum Modellversuch der Bund- Länder-Kommission geadelt und erhielt den akademischen Titel „Erweitern von Kommunikationsstrukturen zwischen Lehrer und Schüler durch qualifizierte dritte Personen von außen mit dem Ziel einer Neuorientierung der Lehrerrolle“.

Die Dritten sind Bildhauer, Maler, Sportler, Musiker und Theaterleute, die zusammen mit Lehrern und Schülern ein Projekt erarbeiten und dabei das verkrustete Feindschema zwischen den Unterrichtsparteien aufweichen sollen. Vier Stunden in der Woche sind dafür eingeplant. Der Lehrer wird selbst zum Lernenden und muß zugeben, nicht alles zu wissen und zu können. Die Schüler entdecken neue, meist praktische Fähigkeiten an sich, die bisher nie gefragt waren, und gewinnen an Selbstwertgefühl. Neben dem Aufbrechen des „Lehrer-Schüler-Syndroms“ erfüllt KidS gleichsam nebenbei eine Forderung, die von der Gesellschaft an die Schule herangetragen wird: Mehr Phantasie und Kreativität wagen.

KidS läuft bereits seit 1990 und wurde aus der Not geboren. Die Freiligrath-Oberschule ist eine Hauptschule, an der sich alle Probleme dieser Schulform und des Kreuzberger Kiezes wie in einem Brennglas bündeln. Mehr als 70 Prozent der Schüler sind Kinder ausländischer Eltern, zumeist Türken. Ihre Zukunftsangst und das Gefühl des Ausgeschlossenseins entluden sich in Angriffen auf Mensch und Material. Lehrer und Schüler hielten sich in dem großen kalten Backsteingebäude, einer Schule so alt wie das Jahrhundert, nur solange auf wie unbedingt nötig. „Sie flüchteten vor der Wahrnehmung ihrer Umwelt, vor Gerüchen, vor dem Schmutz, der Überschüttung mit Fremdem“, sagt Hildburg Kagerer, Leiterin des Modellversuchs, Lehrerin und Psychotherapeutin an der Freiligrath- Schule.

Heute stehen und hängen in den Zimmern und Gängen Fotos, Gemälde und Skulpturen der SchülerInnen. Die Wände sind alle frisch gestrichen, ein Aufenthaltsraum mit Billardtischen und eine Bar wurden gemeinsam gebaut.

Dorothee Dietrich, Lehrerin für Deutsch, Mathe, Erdkunde, Geschichte und Arbeitslehre, hätte sich ohne KidS schon längst in die innere Emigration verabschiedet. Normalen Unterricht hält sie für völlig untauglich. „Die Kinder lernen nichts, verstehen den Sinn nicht. Erst muß die Bereitschaft dasein, die Schüler müssen etwas wollen. Aber sie sträuben sich mit Händen und Füßen dagegen.“

Mit dem Metallkünstler Jaime Villalobos aus Chile leitet sie das Projekt „Klassenraumgestaltung“ – doch von dieser eher biederen Vorgabe haben sich die Schul-Metaller weit entfernt. Mitten im Raum stehen zwei künstlerisch verfremdete Stühle, die genauso gut in eine Galerie passen würden. Eigentlich sollen es Lampen sein. Gleich neben der Eingangstür kocht ein türkisches Mädchen „Cai“, türkischen Tee, der in stilgerechten Gläsern serviert wird. Ein schmächtiger Kerl mit dicker Brille poliert ein Stück Messing, das er mit seinem Turnschuh auf den Boden zwingt. Als Frau Dietrich ihm klarzumachen versucht, die Projektstunde sei vorbei, guckt er sie entgeistert an und fordert Verlängerung. „Die Schüler sehen die vier Projektstunden schon als ihr Anrecht“, sagt die Lehrerin.

Für die ausländischen Schüler ist die Arbeit mit den Künstlern in doppelter Hinsicht wichtig. Viele der Künstler sind selbst Ausländer und erwecken in den Kindern ein Bewußtsein für ihre Identität und Herkunft. „Ausländische Schüler wachen auf, wenn ihre Kultur in die Schule kommt“, heißt es. SchülerInnen ganz unterschiedlicher Herkunft haben sich in einem Filmprojekt mit dem Thema Rassismus auseinandergesetzt. Da die Türken an der Schule in der Mehrzahl sind, fühlen sie sich auch bestärkt, ihre deutschen Klassenkameraden zu drangsalieren. Wenig übrig haben die türkischen Machos auch für die emanzipierten deutschen Mädchen. „Wir sind für die einfach Schlampen, zweite Wahl, Abfallprodukt“, erklärt eine Teilnehmerin des Projekts. Die Schülerinnen dokumentierten mit der Kamera den Schulalltag, um den kopflosen Sprücheklopfern einen Spiegel vorsetzen zu können, „denn sie wissen nicht, was sie tun“, sagt Hildburg Kagerer ganz unpathetisch.

Das 75jährige Jubiläum von Kreuzberg war für die Schreibwerkstatt und Fotogruppe Anlaß, mit dem benachbarten Seniorenheim Kontakt aufzunehmen. Zusammen mit einer Schriftstellerin wurde ein Text aus der Kriegszeit erarbeitet und in Lesungen vorgestellt. Die Hobbyfotografen organisieren Ausstellungen ihrer Bilder und haben sich schon den Jugendfotopreis gesichert. Das gehört zum Konzept: Öffnung der Schule in die Gesellschaft und Ausbrechen des einzelnen aus seinem inneren Ghetto.

Erdal Ülker hat sein Bekehrungserlebnis in Versform gebracht. Der Text „Ja, und dann kam Guntram“ beginnt: Damals ging ich noch zur Schule und war ein richtig grober Rowdy, / kannte nicht die Macht des Schreibens, / war noch nicht vertraut mit anderen Traumwelten..., fährt fort: Da traf ich ihn, ein Kerl, groß, mit Wolfsbart. / Kleine Augen, vor ihnen zwei Gläser / Es war das Monster, grausam, und verlangte, daß ich schrieb... und endet: Das Jahr ging vorüber, an mir vorbei, und / ich gab. Bis ich plötzlich nicht mehr geben wollte. / Erwachte, sah und erkannte: / Das Monster war mein Freund.

Natürlich ist in der Hauptschule kein didaktisches Wunder geschehen. Nicht alle Schüler lassen sich mitziehen. „Einige sind schwierig bei der Stange zu halten. Genauigkeit und Geduld fehlt noch vielen“, sagt Lehrer Gewetzki. „Man gelangt an Grenzen der Kreativität. Es ist sehr viel Angst da“, erzählt die Bildhauerin Annette Hilbrecht, die mit den Jugendlichen eine Sonnenuhr gebaut hat. Einige Schüler nutzen die Freiräume nur zum Herumtollen. Dann lassen sie einfach die Bohrmaschine sausen oder schlagen auf den Amboß ein. Aber irgendwann fangen sie an, sich auch für subtilere Funktionen des Geräts zu interessieren oder gar abstrakte Fragen abzuleiten. Bei den Trommelbauern geistert irgendwann eine Matheaufgabe durch den Raum. David (14) muß unbedingt herausfinden, wieviel 50:3 ist, sonst kann er nicht weitermachen. Die übrigen Kursteilnehmer schlagen 15 als Lösung vor. David läßt sich damit nicht abspeisen. Keine Minute später stehen David und Trommelbauer Wigger einträchtig an der Tafel und üben per Kreidestrich die Division. Lehrer Gewetzki gibt derweil Tips zur Hammerhaltung.

Schwierigkeiten gibt es auch im Kollegium. Einige Pädagogen werden mit ihrer neuen Rolle nicht fertig, fürchten Autoritätsverlust, haben Angst vor neuen Anforderungen oder einfach davor, sich zu blamieren. Aber auch hier überwiegen die positiven Reaktionen. Eine Lehrerin: „Die Arbeit ist schwierig hier. Ich kam an meine Grenzen, aber das Projekt hat neue Motivation gebracht. Ich habe viel gelernt.“

Hildburg Kagerer ist quasi die Urmutter des Projekts. Vor sechs Jahren besuchte sie mit einer notorisch desinteressierten Klasse einen türkischen Bildhauer und traute ihren Augen nicht. Da wurden plötzlich Fragen gestellt, Augen blitzten auf, wenn der Künstler von seiner Arbeit erzählte. Kagerer setzte sich an den Schreibtisch, formulierte ein Konzept und fand bei der Robert-Bosch-Stiftung Gehör, die das Projekt bis 1994 mit 230.000 Mark förderte. „Schule ist so ein zentraler gesellschaftlicher Ort, den kann man nicht einfach den Lehrern überlassen“, sagt sie. Künstler könnten helfen, weil sie „einen völlig anderen Blick haben, der Schule sehr fern stehen und deshalb den Schülern zugleich sehr nah.“

Kagerer will andere Menschen und Institutionen in den Mikrokosmos Schule einbinden – auch finanziell. „Die Schule neigt immer dazu, sich abzuschotten. Wir brauchen aber ein lebendiges Netz, in dessen Zentrum die Schule steht.“ Die Projekte mit Künstlern und Handwerkern wurden inzwischen in feste Stundentafeln überführt. Mehrere Schulen in Berlin, Bayern, Hessen und Niedersachsen haben das Konzept kopiert und machen ebenfalls gute Erfahrungen. Ein Beirat aus Vertretern von 14 Bundesländern begleitet das Modellprojekt. Schulsenatorin Ingrid Stahmer (SPD) hat sich als vehemente Verfechterin des „revolutionären Schulversuchs“ geoutet, natürlich ohne konkrete Zusagen zu machen. Auch sie erklärt das Konzept als tauglich für alle Schulformen und hofft auf viele Nachahmer. „Ich habe das Gefühl, daß bei diesem Modellversuch der Funke überspringt.“

Doch damit werden oft nur Strohfeuer entzündet. 200.000 Mark im Jahr kostet der Modellversuch an der Freiligrath-Schule – mit dem Geld werden bis 1998 Honorare und Material bezahlt. Was danach kommt, ist unklar. Die Freiligrath-Schule könnte den Status einer „besonderen pädagogischen Prägung“ bekommen und damit mehr Geld, sagt Wolfgang Zügel von der Pressestelle der Senatsschulverwaltung. „Sicher ist nur, daß dieses Modell aus Kostengründen nicht auf alle Hauptschulen ausgeweitet werden kann.“

Hildburg Kagerer kämpft derweil verbissen gegen die Trägheit von Lehrern, die Regelungssucht der Schulbürokraten und das Fallbeil der politischen Spardebatte – ein Bermudadreieck, in dem schon viele Modellversuche für immer verschwunden sind. „Die Schule muß sich ändern. Sie ist gestrig geworden, hat nichts mehr mit der Gegenwart der Kinder zu tun...“, sagt sie und zischt durch die Zähne: „...eine Groteske, völlig absurd.“

KidS ist für sie nur der erste Schritt auf dem Weg zu einer völlig neuen autonomen Schule, in der Erfahrung und Kompetenz weitergegeben und dafür Anregungen, unverbrauchte Phantasie und Spontaneität mit nach Hause genommen werden: eine Schule, in der Leben gelernt und gelehrt wird.