: Arbeitsleben online
■ Nicht nur die Unternehmen, auch Gewerkschaften entdecken die Chancen hochqualifizierter Telearbeitsplätze
Was haben Stuttgarter StadtparlamentarierInnen, IBM-ManagerInnen, Reutlinger Kleinst-Multimediafirmen und GrafikerInnen aus dem Raum Marburg gemeinsam? Sie wickeln ihre Arbeit in Telehäusern, Satellitenbüros oder von zu Hause aus ab, in Kombination mit einem Schreibtisch im Büro. Noch gehören sie zu einer Minderheit. Solche EinzelkämpferInnen oder Teams, die sich zu virtuellen Unternehmen zusammenfinden, sind über den ganzen Globus verstreut, das gemeinsame Stichwort heißt „Telearbeit“.
Anders als in den europäischen Vorreiterländern Großbritannien und Frankreich spielt diese neue Arbeitsform in Deutschland noch keine wesentliche Rolle. Schätzungen schwanken zwischen wenigen tausend (DGB) und 150.000 tatsächlichen Telearbeitsplätzen, wie etwa die Bonner Gesellschaft für Kommunikations- und Technologieforschung empirica in ihrer europaweiten Grundlagenstudie von 1994 herausfand.
Ein Randphänomen? Zumindest einmal im Jahr wird über diese Arbeitsform in größerem Rahmen diskutiert. Mitte November fand die europäische „Woche der Telearbeit“ mit rund 30 Veranstaltungen statt. In Bonn wurden auf der Tagung „Telearbeit Deutschland – neue Formen und Wege zu Arbeit und Beschäftigung“ zahlreiche Beispiele für Telearbeit, darunter viele Modellprojekte aus deutschen Landen vorgestellt.
Lange waren die Diskussionen von einem Klischee beherrscht: Geringqualifizierte Frauen rotieren zwischen Küche, Kind und Computer. Doch längst weist der Trend in Richtung auf hochqualifizierte Beschäftigung. Insbesondere alle Informationsberufe, aber auch DienstleisterInnen aller Art entdecken das dezentrale Arbeiten mit Modem, E-Mail und Internet als Chance. Großkonzerne wie beispielsweise IBM berichten, daß Telearbeitspilotprojekte sehr viel mehr Zuspruch unter den ArbeitnehmerInnen fänden, als Plätze vorhanden seien.
Diese Einschätzung teilt auch Welf Schröter, der das Forum Soziale Technikgestaltung beim DGB-Landesbezirk Baden-Württemberg leitet. Das gewerkschaftsinterne Netzwerk von etwa 800 Personal- und BetriebsrätInnen registriere eine enorme Nachfrage bei ArbeitnehmerInnen.
Schröter glaubt, daß Telearbeit künftig fast alle Berufe und Beschäftigungsformen prägen wird, mit allen positiven wie negativen Auswirkungen. Einerseits zeigt sich deutlicher Zuspruch von seiten der ArbeitnehmerInnen, andererseits steht Telearbeit unter starkem Verdacht, Outsourcing-Prozesse zu verstärken und deregulierten Arbeitsverhältnissen Tür und Tor zu öffnen.
Wenn es um Kostenreduktion auf Unternehmensseite geht, ist Telearbeit tatsächlich eine ideale Arbeitsform. Einhellig verkündeten die Unternehmensvertretungen in Bonn, daß TelearbeiterInnen um bis zu zwanzig Prozent produktiver arbeiten und gleichzeitig enorme (Fix-)Kosten einsparen. So bot IBM-Manager Zorn den verblüfften ZuhörerInnen ein inzwischen leerstehendes Firmengebäude zum Kauf an. Allerdings ist Telearbeit in solchen Unternehmen rechtlich abgesichert, Telearbeitsplätze unterscheiden sich nicht von Normalarbeitsverhältnissen.
Doch das Potential ist größer. Neuester Trend: Vom Teleworking zum Networking. Hochspezialisierte FreelancerInnen bilden ein oder mehrere virtuelle Unternehmen und arbeiten an verschiedenen Projekten in wechselnden Teams. Diese Variante scheint auch in den deutschen Arbeitsalltag einzuziehen. Das dazugehörende Leitbild vom selbständigen Arbeitnehmer machte in Bonn die Runde.
Immer mehr ArbeitnehmerInnen nutzen die Vorteile eines Freelancer-Daseins: freie Zeiteinteilung, selbständiges, flexibles Arbeiten ohne festgefahrene Strukturen und Hierarchien, aber auch ergebnisorientiertes und projektbezogenes Arbeiten. Insgesamt können die Grenzen zwischen Arbeit und Leben fließender gestaltet werden. Daß damit aber auch ständige Erreichbarkeit, starker Konkurrenzdruck, Isolation oder wiederkehrende Existenzkrisen verbunden sind und soziale Absicherungen zunehmend wegbrechen, beschäftigt die Gewerkschaften immer mehr: Wie sind diese neuen Arbeitsverhältnisse zu regulieren?
In Bonn stellte Welf Schröter den neuen Gewerkschafts-Informationsservice „Wissen auf Abruf“ vor. Zielgruppen: vernetzte ArbeitnehmerInnen, aber auch Arbeitsuchende, BetriebsrätInnen und neue Selbständige. Noch geht es unter http://www.telewisa.de recht bescheiden zu. Das Forum Telearbeit hält für abhängig Beschäftigte nur den Pilottarifvertrag zwischen Deutscher Postgewerkschaft und Telekom bereit. Selbständige und FreelancerInnen müssen sich mit dem „Ratgeber Freie“ (IG Medien) und Honorarempfehlungen begnügen.
Ohne weiteres lassen sich die Erfahrungen der PionierInnen in Sachen Telearbeit, der Journalistinnen, wohl nicht auf andere Branchen übertragen. Aber immerhin ist die Online-Beratung ein Anfang. Nach und nach soll der Informationsdienst mit den Foren Telearbeit, Frauen und Qualifizierungsangeboten erweitert werden. Nikola Wohllaib
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen