■ Interview mit dem französischen Soziologen und Unternehmensberater Henri Vacquin zur Streikkultur
: „Die Militanz zählt“

taz: In dieser Woche streiken in mehreren französischen Provinzstädten die Transportarbeiter, in der letzten Woche waren die Lkw- Fahrer und das Luftpersonal von Air France im Ausstand. Ist die Lage in Frankreich tatsächlich so katastrophal, wie die Häufigkeit der Streiks vermuten läßt?

Henri Vacquin: Es ist immer noch besser, Sozialhilfeempfänger in Paris zu sein, als Angestellter in Moskau.

Und wenn Sie es mit Ländern der Europäischen Union vergleichen?

Deutschland mit seinen 17 Millionen aus dem Osten, mit der Vereinigung, der Leere und der Arbeitslosigkeit, ist mit einem sozialen Druck konfrontiert, der stärker ist als der in Frankreich.

In Frankreich brechen große Arbeitskämpfe oft überraschend aus. Das war bei den Lkw-Fahrern genauso wie im letzten Winter bei den Beamten. Woran liegt das?

Das hat mit Traditionen zu tun, die ganz anders sind als in Deutschland. In Frankreich kommt bei den sozialpartnerschaftlichen Beziehungen zuerst der Konflikt, dann die Forderung, dann die Verhandlung. In Deutschland ist das umgekehrt: Da kommt zuerst die Forderung, dann die Verhandlung und hinterher der Konflikt. Außerdem muß man in Frankreich noch die Schwäche der Gewerkschaften und die Arbeitslosigkeit sehen. Das hat für ein beachtliches Nachlassen der Konflikte gesorgt. In einem Land, wo es sehr lange keine Verhandlungen mehr gegeben hat, häufen sich natürlich die Spannungen.

Je weniger die Franzosen streiken, desto heftiger tun sie es?

Die Bereitschaft zur Beteiligung an sozialen Konflikten hat in den letzten 15 Jahren nachgelassen. So lange hat es keine Konflikte in der Privatwirtschaft mehr gegeben und nur sehr wenige im öffentlichen Dienst. Angst vor Arbeitslosigkeit hat die Konfliktbereitschaft überdeckt. Wenn Sie etwas sehr lange und sehr tief vergraben, knallt es – wenn es dann hochkommt – um so heftiger.

Gab es einen Ansteckungseffekt, der vom Streik des öffentlichen Dienstes auf die Privatwirtschaft übergegangen ist?

Das ist nicht die richtige Art, die Frage anzugehen. Das ist keine einfache Wiederholung, sondern eine neue Art von Konflikt, die jetzt vergleichbare Formen entfaltet, ganz egal, wo sie auftaucht. Diese neue Konfliktart hat im Winter 1995 begonnen und fand damals im öffentlichen Dienst statt. Aber sie war Träger einer gesellschaftlichen Malaise, und die hat keine Antwort bekommen.

Immerhin hat die Regierung Juppé damals Zusagen gemacht...

Aber kein Abschlußabkommen. Der Premier hat nur erklärt, daß 250.000 Arbeitsplätze für Jugendliche geschaffen werden sollen. Die gibt es bis heute nicht. Auch die bei Streikende angekündigten Verhandlungen über eine Arbeitszeitverkürzung sind gescheitert. Hinzu kommt, daß die Regierung zwischenzeitlich massive Stellenstreichungen angekündigt hat.

Warum haben die Beamten dann nicht erneut gestreikt?

In Frankreich gibt es keine Streikkassen wie in Deutschland. Wer streikt, zahlt – verteilt auf sechs Monate oder ein Jahr – seine Streiktage ab. Im öffentlichen Dienst läuft das jetzt noch vom vergangenen Jahr. Das erklärt einen Teil der sozialen Apathie. Andererseits haben die Beamten ja wieder gestreikt – weniger als im Winter 1995, aber der Konflikt geht weiter.

Wo wird es als nächstes zum Knall kommen?

Die soziale Destabilisierung kommt nicht a priori aus den Betrieben, sondern über die Gesellschaft. Nehmen Sie zum Beispiel die bretonische Kleinstadt Lannion, wo Alcatel seine Belegschaft um 600 Leute reduzieren will. Letzte Woche waren dort 20.000 Menschen auf der Straße – in einer Stadt mit 18.000 Einwohnern. Das bedeutet, daß es heute das Problem der Beschäftigung nicht mehr nur in Unternehmen gibt, sondern ein gesellschaftliches Echo bekommt, das sehr stark ist. Wenn die Dinge in Frankreich sich destabilisieren sollten, wird das mehr über ein regionales und gesellschaftliches Erwachen gehen, im Zusammenhang mit dem Thema Beschäftigung. Und das wiederum kann zu Branchenstreiks führen, die den Prozeß generalisieren.

Der Streik der Lkw-Fahrer war ein Beispiel für die vielfältigen Spaltungen in der französischen Gewerkschaftsbewegung: Nur ein kleiner Teil der Branche streikte, von denen wiederum war nur ein Bruchteil gewerkschaftlich organisiert – und dazu noch bei fünf verschiedenen Gewerkschaften. Trotzdem haben sie etwas erreicht. Wie erklären Sie das?

Dahinter steckt der grundsätzliche Unterschied der Gewerkschaftsbewegungen. Der angelsächsische Syndikalismus ist von zahlenden Mitgliedern bestimmt, der romanische von Militanten. In Frankreich zählt nicht der gewerkschaftliche Organisationsgrad, sondern der Grad der Militanz. Da reichen 7 Prozent gewerkschaftlich organisierte und sehr aktive Leute für einen Streik aus.

Noch mal zum Thema Spaltungen: Die kommunistische CGT wollte den Lkw-Streik ausweiten, die sozialdemokratische CFDT wollte aufhören.

Es ist gesellschaftlich wichtig, die Wut zu mobilisieren und zu verwalten. Aber es ist eine andere Sache, ihr einen Sinn zu geben. Wenn Nicole Notat von der CFDT sagt, daß sie keine Ausweitung des Konflikts wünscht, tut sie das aus Sorge um dieses Land. Da es keine politische Alternative gibt, hätte man beim Fortgang des Streiks um die soziale und demokratische Stabilität fürchten müssen.

Ein Streikende aus Angst vor den Rechtsextremen?

Heute geht es der demokratischen Rechten in Frankreich schlecht. Sie hat keinen Monsieur Kohl, der so glaubwürdig wäre wie Ihrer, und sie ist sehr gespalten. So etwas wie eine linke Opposition existiert nicht. Da weder die demokratische Rechte noch die Linke alternative gesellschaftliche Projekte haben, wäre eine soziale Destabilisierung sehr gefährlich und kann Verrückten wie der Front National nützen. Die politische Leere ist das größte Problem der Gewerkschaften.

Gibt es europäische Lehren aus dem Lkw-Streik?

Die Straßentransportarbeiter sind das beste Beispiel dafür, daß der Markt, wenn er sich selbst überlassen bleibt, dramatische Effekte produziert.

Ist das ein Plädoyer gegen den Binnenmarkt?

Im Gegenteil. Der Streik hat den Beweis geliefert, daß Europa eine soziale Vereinheitlichung braucht. Interview: Dorothea Hahn