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Leichtes Spiel

■ Sorgenverjager auf Weltniveau: Eine Geschichte des "musikalischen Globetrotters" Mundharmonika

„Die Mundharmonika wird im Gehen, Stehen, Sitzen, ja selbst liegend im Bette geblasen“, heißt es in der Preisung des entscheidenden Vorzugs des je nach Natio- oder Regionalität unterschiedlich bezeichneten Musikinstruments in einem Diktum aus dem Bayern des 19. Jahrhunderts: Das „Muulorgeli“, auch „Schnuremusig“ oder „Fotzhobel“ (Fotz = Mund) genannt, international unter anderem als „Scaccia pensiere“ (Sorgenverjager) oder „Gaita de Boca“ (Mundspaß) bekannt, war in seinen Anfängen ein Modernitätsträger durch Verfügbarkeit, Mobilität, Niederpreisigkeit und leichtes Spiel, das ohne Noten auskam. Theresia Eisl, eine aus dem Salzkammergut stammende frühe Meisterin des Instruments, faßte es in die Worte: „Wenn ich's singen kann, kann ich's auch spielen!“

Solches und vieles andere hat taz-Autor Christoph Wagner zu einer Geschichte des „musikalischen Globetrotters“ unter den Musikinstrumenten beigetragen. Daß das Massenbegehren nach dem (zusammen mit dem Akkordeon) ersten Popinstrument der Musikgeschichte hinsichtlich seiner Verbreitungswege koextensiv zu den neuen Medien Post und Eisenbahn verlief – Kittler mag's freuen. Desgleichen das Kapitel, in dem die Militärgeschichte des Frontsoldatenfreundes Harmonika beschrieben wird. Pünktlich zu WW I etwa brachte Hohner eine Mundharfe auf den Markt, der ein Verstärker in Form einer Munitionshülse angeschweißt war. Ihr Modell „Hoch Hindenburg“ pries die Firma Weiss mit dem in das feldgraue Etui geklebten Vers an: „Wenn der Feinde Kugeln summen, / Uns're 42er brummen, / Spielen wir in aller Ruh / Weiss Harmonika dazu.“

Doch auch in der zivilen Nutzung brachte es die Mundharmonika auf Weltniveau. Indien (Filmmusik!), Brasilien, Kuba, Paraguay, Schweden, die Alpenländer verfügen diesbezüglich über je eigene Traditionen. Die Berliner Stadtteile Neukölln, Kreuzberg und Wedding sollen bis in die Fünfziger unseres Jahrhunderts Hochburgen des organisierten Harmonikaspiels gewesen – und erst mit der Arbeiterklasse praktisch zerfallen sein.

Parallel verlaufende Versuche, die Harmonika als konzertantes Instrument zu verkunsten, mit dem sich bei entsprechender Orchestrierung auch Beethoven bewältigen läßt, können indes nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Mundharfe nur in einem einzigen Genre stilbildend war: im Blues.

Entsprechend der signifikanten Bearbeitung, die afroamerikanische Kultur noch stets am Kanon des Erbes von Herrschaftskultur vorgenommen hat, enstanden hier Dehn-, Seufz-, Überblas-, Call & Response-, gar Wahwah-Effekte sowie die Technik, mit einer eine Quart höher liegenden Harp die sogenannten Blue notes in die Tonleiter zu integrieren („Cross- harp“-Spiel). Erwähnt sei noch, daß der virtuose Noah Lewis mit seinem Simultanspiel auf zwei Instrumenten (wobei er gleichzeitig durch Mund und Nase blies) das Publikum verblüffte, während Rice Miller die Harmonika vollständig in seinem Mund verschwinden lassen konnte, ohne mit dem Spielen aufzuhören, „was seinem Gesicht ein exzentrisches Grinsen verlieh“.

Genützt hat es insofern nichts, als mit diesem Höhepunkt an kreativem Gebrauch zugleich auch der Abstieg der Mouth harp als Instrument der Moderne begann. Es ist nur wenig übertrieben, wenn das „Hosentaschenklavier“ hier als legitimer und mehr oder weniger unmittelbarer Vorläufer des Gameboy angeführt wird – auch wenn die Harmonika heute alt aussieht, rein imagemäßig. Nach einem letzten Coup als Titelinstrument in „Spiel mir das Lied vom Tod“ wird das einstmals modernste Instrument der Welt vollends zum Koloritgeber für abgelegte Sentimente, wie etwa in „Free Willy I und II“, wo es in der Freundschaft zwischen einem Jungen und gleichnamigem Killerwal, wie es im vorliegenden Band heißt, „eine ganz bestimmte Rolle spielt“. Thomas Groß

Christoph Wagner (Hg.): „Die Mundharmonika. Ein musikalischer Globetrotter“. Transit Verlag 1996, 215 S., 48 DM

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