Ansichten einer bedrückenden Nation

■ Das Museum für Kunst und Gewerbe zeigt unter dem Titel „Sichtbare Zeit“ eine umfangreiche Werkausstellung des Berliner Fotografen Michael Ruetz

Ein gelangweiltes Pärchen schiebt sich in unverbindlicher Umarmung über den Tanzboden („Urlauber 1“). Daneben die mißglückte Machtdemonstration eines „Schutzpolizisten“, die sich als ungestümer Verhaftungs-Tango mit dem widerständischen Delinquenten gestaltet.

Die Deutschen, die Michael Ruetz in seinen Fotografien der 60er und 70er Jahre versammelt, scheinen allesamt einer bedrückenden Nation anzugehören, gegängelt von dünkelhaften Politikern, verzaubert oder verstört von deren Gegenstreitern und ansonsten im trüben Alltag verloren.

Ruetz' frühe Bilder, die mit den späteren Serien unter dem Titel Sichtbare Zeit noch bis zum 26. Januar im Museum für Kunst und Gewerbe ausgestellt sind, dokumentieren seine Anfänge als Bild-Reporter, der sich als Teil der APO und zugleich als deren kundigster Exeget versteht. Politische Scheinhaftigkeit der Staatsmacht will der ehemalige Stern-Fotograf mit besonders respektlosen Ansichten durchdringen. Die Schrulligkeit Pauschalreisender genießt er per unvorteilhaften Untersichten, und die Thresentristesse nach dem Feierabend dehnt er mittels Weitwinkel.

In stilleren APO-Bildern schlendert der Fotograf hingegen ausgeklügelter zwischen Beobachtung und Inszenierung hin und her. Und manchmal tritt der Beobachter seinen Motiven eher mit Wehmut als mit programmatischer Ironie entgegen. Der Kampf der Studentenbewegung wird bei Ruetz nur der Versuch eines gesellschaftlich-politischen Vatermords. Doch statt die Weltkriegsgeneration abzulösen und in Eigenständigkeit aufzugehen, bettet die Studentengeneration sich gemütlich in alten Rollenklischees. Daß in „Familie 5. Studentenehe“ Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am Kopfende prangen, ist nur eine Frage der Etikette.

Wenn Ruetz später den Bildjournalismus mit seinen sicheren Effekten aufgibt und den einen, alles entscheidenden Augenblick nicht mehr dogmatisch zum Auslöser einer Entdeckung nutzt, nimmt die zeitlose Brisanz seiner Arbeiten zu. Und es sieht so aus, als habe Ruetz sich nun vorgenommen, die Entwicklung seines Mediums zu inspizieren und eine Zeitreise zu dessen Anfängen anzutreten.

So erinnern die frontalen Porträts von Menschen verschiedener Berufsgruppen an die Bild-Serien August Sanders. Wie etwa die Arbeiterin („Genießer 1“), die frontal in die Kamera schaut, eine Zigarette zwischen dickgummierten Fingerschutz geklemmt, oder der älteste Hammerschmied der DDR („Handwerker“), der sich nicht ohne Kennerstolz neben einem monströsen Hammer plaziert hat und für seine überdimensionalen Arbeitshände keinen rechten Platz zu finden scheint. Aufnahmen, die nicht länger den Zufall als Publikumsüberraschung fest im Programm haben, sondern ihn geradezu ausschließen.

Die Rückkehr zum Motiv Berlin ähnelt einer Versuchsanordnung. Berlin, das für Ruetz 1968 eine dramatische Einheit von Ort und Zeit abgab, scheint nun als Langzeitexperiment unter der Käseglocke seines Objektivs zu liegen. In statischen Tableaus lichtet Ruetz von 1987 bis 1995 im monatlichen, manchmal halbjährlichen Rhythmus Fassaden entlang der Mauer ab. Bilder-Logbücher, in denen die Zeit sich als auf- und wieder abgebautes Baugerüst, als eröffnete und wieder verschwundene Pommesbude manifestiert und die die Bildserie zu einem Daumenkino brachialer Berliner Stadtentwicklung werden lassen. Mit diesen durativen Panoramen, deren Bildaufbau Anleihen bei den architektonisch-konstruktivistischen Fotografen der 20er und 30er Jahre macht, erobert sich Ruetz das Bild noch einmal neu und arbeitet zum erstenmal nach striktem Konzept.

Die Ausstellung endet mit naturalistisch-romantischen Landschaftsansichten, in denen Ruetz wie die Fotografen des 19. Jahrhunderts die Kamera als Lichtpinsel gebraucht. Ein Eifer des inzwischen 56jährigen, der nicht nachzuvollziehen ist und sich in fast senilen, wahlweise vernebelten oder dämmernden Idyllen ausdrückt. Eine ästhetische Sprachlosigkeit mit imaginärem Goldrand, die die Sichtbare Zeit so unglücklich wie abrupt enden läßt.

Birgit Glombitza

Museum für Kunst und Gewerbe, bis 26. Januar