„Was ist, wenn ich schwänze?“

■ Oldenburger Verein „Jugendrechtshaus“ gibt juristische Tips bietet bundesweit einzigartige Rechtsberatung für Kinder und Jugendliche

Thomas (14) und Michael (18) hatten die Gefahr unterschätzt. Der Deal mit Hasch und Marihuana, eingekauft bei Wochenend-Ausflügen im nahen Holland, lief anfangs wie geschmiert. Doch dann gerieten die Brüder auf einem Oldenburger Schulhof an die falschen Kunden. Eine Clique von Gleichaltrigen wollte mehr, forderte Kokain statt Marihuana und ein „Schutzgeld“ obendrauf.

Für Michael und Thomas begann damit eine Zeit des Terrors. Sie wurden auf dem Schulweg bedroht, verfolgt und verprügelt, später wurde gar am Haus der Eltern gezündelt. Die Nachwuchsdealer steckten in der Zwickmühle: Die Eltern durften vom Drogenhandel auf dem Schulhof nichts erfahren, Polizei und Staatsanwaltschaft schon gar nicht. Aber so konnten sie auf keinen Fall weiterleben.

Ein, wie die Oldenburger Richterin Sigrun von Hasseln meint, exemplarischer Fall für ein „Ohnmachtsgefühl“ von Jugendlichen gegenüber staatlichem Recht: „Polizei und Justiz schienen den beiden zunächst ganz und gar nicht zur Lösung ihres Problems geeignet, da sie selber gegen das Gesetz verstoßen hatten.“ In anderen Fällen fehle es den Kids an geeigneten Ansprechpartnerlnnen, wenn sie mit dem Gesetz in Konflikt geraten oder selbst zum Opfer wurden und Hilfe benötigen:

Zwischen Jugendlichen und Recht besteht ein Spannungsfeld, in dem Sigrun von Hasseln einen „dringenden Handlungsbedarf“ sieht.

Um Kindern und Jugendlichen „selbst bei einem Sack von Schwierigkeiten ein Auffangbecken“ zu bieten, hat die Richterin daher in dieser Woche gemeinsam mit Justiz-, Polizei- und Kirchenvertre-terInnen, Sozialarbeiterlnnen, Psychologlnnen und Studierenden den Verein „Jugendrechtshaus“ in Oldenburg gegründet.

Für die bundesweit einzigartige Initiative, die unter anderem kostenlose Rechtsberatung durch Anwälte für Kinder und Jugendliche anbieten und im Bereich der Gewaltprävention arbeiten will, hat die Oldenburger Stadtverwaltung bereits Räumlichkeiten zugesichert. Anträge beim Bundesjugend- und Justizministerium auf Förderung als Bundespilotprojekt sind gestellt.

Das „Jugendrechtshaus“ bekommt ab Frühjahr 1997 Räumlichkeiten in einem städtischen Haus. Und dort sollen die Kids Antworten auf Fragen bekommen, für die ihnen bislang die Ansprechpartner fehlten: Was eigentlich ist „eine geringe Menge Haschisch“? Ist Graffiti Kunst oder Sachbeschädigung? Was passiert, wenn ein l3jähriger die Schule schwänzt? Wenn l6jährige zu Hause ausziehen – müssen die Eltern Unterhalt zahlen?

Da sich der Verein die „Vermittlung von Rechtsbewußtsein in einem möglichst frühen Alter“ ins Programm geschrieben hat, soll sich die Arbeit des „Jugendrechtshauses“ nicht auf eine reine Rechtsberatungstätigkeit beschränken. Beiräte wurden bei der Gründungsversammlung gewählt, die sich unter anderem mit Themen wie Motivationsforschung, Opferschutz, Schreibwerkstatt, Identitätsbildung, Gewaltprävention und Öffentlichkeitsarbeit befassen werden; Wissenschaftlerlnnen sollen für das Projekt interessiert werden und das Spannungsfeld „Jugend und Recht“ bearbeiten.

Michael und Thomas gehörten zu den ersten „Klienten“ der Initiative, denen bereits im Vorfeld der Vereinsgründung geholfen werden konnte. Richterin von Hasseln ließ ihre Kontakte spielen und vermittelte zwischen den Brüdern und der Staatsanwaltschaft.

Die traten „den Gang nach Ca-nossa“ an, legten ein strafmilderndes Geständnis über ihren Drogenhandel ab und kamen glimpflich davon: Das Verfahren gegen den Jüngeren wurde sogleich eingestellt, der Ältere erhielt eine „äußerst geringfügige Strafe“. Vor den Schutzgelderpressern aber haben die Brüder, nachdem sie endlich Anzeige erstattet hatten, Ruhe.

Jens Breder

Bis zum Einzug in das „Jugendrechtshaus“ ist der Verein telefonisch unter (0441) 82 237 zu erreichen