: "Kein Wesen will leiden"
■ Der Tierrechtler und Philosoph Helmut F. Kaplan fordert, die Ausbeutung der Tiere zu beenden. In bezug auf Leiden gibt es für ihn keinen Unterschied zwischen Mensch und Tier
taz: Wie radikal darf Tierschutz sein?
Helmut Kaplan: Genauso radikal wie Menschenschutz.
Heißt das: Gewalt gegen Sachen ist in Ordnung?
Die Tierrechtsbewegung ist kein homogenes Gebilde. Ich kann nur für „Animal Peace“, deren Berater und Sprecher für ethische Grundsatzfragen ich bin, sprechen: Wir lehnen Gewalt ab, und wir leisten Hilfe, wenn sich jemand in Gefahr befindet.
Und mit diesem „jemand“ sind auch Tiere gemeint?
Selbstverständlich. Denn hier geht es um die Verhinderung und Verminderung von Leiden, und in bezug auf Leiden gibt es zwischen Menschen und Tieren keinen prinzipiellen Unterschied. Kein Wesen will leiden.
Was ist der Unterschied zwischen Tierschützern und Tierrechtlern?
Sowenig Frauen für Männer oder Schwarze für Weiße geschaffen wurden, sowenig wurden Tiere für den Menschen geschaffen. Tiere sind eigenständige Wesen mit einem Recht auf eigenständiges Leben. Deshalb fordern Tierrechtler die Beendigung von Ausbeutung von Tieren. Tierschützer begnügen sich mit der „Humanisierung“ der Ausbeutung. Aber eine „Humanisierung“ beispielsweise der Schlachtung ist natürlich genauso absurd wie eine „Humanisierung“ der Sklaverei oder die Zulassung „sanfter“ Vergewaltigung.
Mensch – Tier. Gibt es Grenzen der Gleichheit?
Das moralische Gleichheitsprinzip behauptet keine faktische Gleichheit, sondern fordert gleiche Berücksichtigung ähnlicher Interessen. Weil sowohl Menschen als auch Tiere ein immenses Interesse haben, nicht zu leiden, soll dieses Interesse auch bei Menschen und Tieren gleich ernst genommen werden – ohne Diskriminierung aufgrund der Artzugehörigkeit.
Manchmal scheint es, daß Sie bei Ihrem Einsatz für die Tiere von allen guten Geistern verlassen sind. In Ihrem Buch „Leichenschmaus“ sprechen Sie Ihren menschlichen Artgenossen das Lebensrecht ab, wenn sie auf Kosten der Tiere genießen, ohne zu helfen.
Der Schlüsselsatz lautet: „Wer genießt, ohne zu helfen, macht sich schuldig und verdient nicht zu leben.“ Dieser Satz ist absolut ernst gemeint. Wer das ungeheure Glück hat, vom endlosen Leiden auf Erden einigermaßen verschont zu werden, und dies nicht als Verpflichtung begreift, denen zu helfen, die nicht dieses unverdiente Glück haben, der hat jegliches moralische Recht auf Glück und Leben verwirkt. Mich schockiert offengestanden der Wirbel, den diese Passage immer wieder auslöst. Ist denn die Forderung, daß diejenigen, denen es gutgeht, denen helfen sollten, denen es weniger gutgeht, wirklich so skandalös? [Wer ist Herr Kaplan, daß er glaubt entscheiden zu können, welche Menschen ein Lebensrecht haben? d.sin]
Veganer, also Menschen, die gar keine tierischen Produkte konsumieren, werden von manchen Linken wie Jutta Ditfurth in die rechte Ecke gestellt. Ist etwas dran an dieser Einschätzung?
Ich wüßte nicht was. Den Rechten geht es darum, die moralische Sphäre durch den Ausschluß bestimmter Gruppen, etwa von Ausländern, zu verkleinern. Die Veganer verfolgen das entgegengesetzte Ziel: unsere moralische Sphäre weiter auszudehnen, nicht nur auf alle Menschen, sondern auf alle leidensfähigen Lebewesen.
Welche Bedeutung hat der umstrittene Peter Singer für die Tierrechtsbewegung?
Eine überhaupt nicht zu überschätzende. Sein 1975 erschienenes Buch „Animal Liberation“ war die Initialzündung für die Tierrechtsbewegung.
Sie haben kein Problem mit seiner These, schwerstbehinderte Neugeborene unter Umständen zu töten, um ihnen und den Eltern weiteres Leid zu ersparen?
Man sollte endlich zur Kenntnis nehmen, was die Ursache der ganzen Euthanasie-Debatte war: vorhandene, aber unhaltbare Praktiken im Umgang mit Behinderten! Schwerstbehinderte Neugeborene, bei denen keine Aussicht auf Besserung bestand und deren ganzes Leben aller Voraussicht nach aus unerträglichem Leiden bestehen würde, wurden einfach „liegengelassen“. Dieses Verhungern- und Verdurstenlassen dauerte oft wochenlang. Hier setzte die Forderung Singers an: Wenn man sich aus humanitären Gründen entschließt, ein schwerstbehindertes Kind sterben zu lassen, sollte das nicht langsam und qualvoll, sondern rasch schmerzfrei erfolgen.
Dennoch: Viele Menschen weisen Singers Thesen als unmenschlich zurück und sagen: „Die Tiere will er retten und die Menschen umbringen.“
Unsinn: Der Tierrechtsbewegung geht es nicht um die Senkung des moralischen Status der Menschen, sondern um die Hebung des moralischen Status der Tiere.
Werden Menschen Tiere noch in 100 Jahren quälen und töten?
Die Tierrechtsbewegung ist die logische Fortsetzung anderer Befreiungsbewegungen, wie etwa die Befreiung der Sklaven oder der Emanzipation der Frauen: Stets geht es um die Überwindung von Diskriminierung aufgrund moralisch irrelevanter Merkmale. Das Scheitern der Tierrechtsbewegung wäre nicht nur ein Schaden für die Tiere, sondern auch eine Bankrotterklärung für den Menschen. Interview: Volker Stahl
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen