: Immer weniger Leute reisen im Großgefäß
Busse und Bahnen fahren heute nach Prinzipien, die einer Gesellschaft Anfang diesen Jahrhunderts entsprechen – und verlieren dadurch zunehmend Kunden an die Autoindustrie. Der öffentliche Verkehr muß individueller werden ■ Von Weert Canzler
Öffentlicher Personennahverkehr, kurz ÖPNV, ist ein Wortungetüm wie Fahrgastaufkommen oder Beförderungsfall. Alle drei Begriffe stammen aus einer Zeit, als für bürokratische Staatsbetriebe der Transport von Leuten ein reiner Verwaltungsakt war. Nicht Kundenorientierung, sondern hoheitliches Verwalten von Untergebenen bestimmten die Haltung von öffentlichen Verkehrsbetrieben.
Diese Monopolposition des öffentlichen Verkehrs, wie sie in den 20er und 30er Jahren und bis weit in die 50er Jahre in Deutschland bestand, ist mit dem Siegeszug des Automobils dahin. So sackte der Anteil des öffentlichen Personennahverkehrs an der Verkehrsleistung von 13 Prozent im Jahr 1975 auf 8 Prozent 1995. An dieser Tendenz ändern auch Zuwächse bei den absoluten Fahrgastzahlen nichts.
Immerhin: Die Verkehrsbetriebe verstehen sich heute als Dienstleister. Sie wollen „den Wettbewerb mit der Straße gewinnen“, wie Dieter Ludwig, Präsident des Verbandes Deutsche Verkehrsunternehmen, jüngst mutig formulierte. Aber ist der öffentliche Personenverkehr, wie wir ihn kennen, überhaupt in der Lage, die Konkurrenz zum Auto aufzunehmen? Wie müßte er aussehen, um diesen Wettkampf zu bestehen? Welche Rahmenbedingungen braucht er? Diese Fragen werden in der Verkehrswissenschaft kontrovers diskutiert.
Automobilbegeisterte ÖPNV- Kritiker beklagen die Subventionen für den öffentlichen Verkehr. Der Kostendeckungsgrad der Verkehrsbetriebe liegt tatsächlich nur bei 40 bis 70 Prozent der Betriebskosten. Demgegenüber behauptet zum Beispiel der Bochumer Verkehrsökonom van Suntum eine annähernd hundertprozentige Kostendeckung des Autoverkehrs durch Kfz- und Mineralölsteuer. Andere Verkehrswissenschaftler stellen dem entgegen, daß der öffentliche Verkehr nicht nur Steuergelder verschlingt, sondern auch ökologische Nettoeffekte bringt und volkswirtschaftliche Ressourcen schont. Denn bekanntlich ist ein ausgelasteter Bus- und Bahnbetrieb ökonomisch und ökologisch viel effizienter als endlose Schlangen von Autos, die jeweils ein Eigengewicht von einer Tonne haben und durchschnittlich nicht mehr als 1,3 Personen transportieren. Der Verkehrsexperte Herbert Baum hat am Beispiel Köln ausgerechnet, daß zusätzliche Kosten von 1,7 Milliarden Mark im Jahr entstünden, wenn das derzeit öffentlich angebotene Verkehrsaufkommen durch den motorisierten Individualverkehr ersetzt würde. Dem stehen jährliche Subventionen von lediglich 0,9 Milliarden Mark gegenüber.
Ein anderer Streitpunkt in der verkehrswissenschaftlichen Diskussion ist die Einschätzung der Akzeptanz von Bussen und Bahnen. Die einen setzen unter dem Stichwort „Public Awareness“ auf mehr und bessere Information, um Automobilisten für die umweltfreundlicheren Öffentlichen zu gewinnen. Werner Brög und sein Beratungsinstitut Socialdata vertrauen dabei ganz auf „professionelle Kommunikationsarbeit“ und „weiche Faktoren“ für die Verkehrsmittelpräferenz. Der Korridor der Einstellungs- und damit der Verhaltensveränderungen sei immens, weil „in Deutschland 49 Prozent aller Wege hinsichtlich ihrer Verkehrsmittelwahl prinzipiell flexibel“ seien – und zwar ohne daß das Verkehrsangebot verändert werden müßte, so Brög.
Die Zweifler wenden ein, daß mit Fahrzeugen und Organisationsprinzipien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Mobilitätsbedürfnisse der individualisierten Gesellschaft nicht erfüllt werden können. Siedlungsstruktur sowie Arbeitsplatz- und Handelsbedingungen sind „zunehmend autoaffin“, meint der Raumplaner Hartmut Topp.
Der traditionelle ÖPNV hingegen ist normalerweise zentral auf die Innenstädte ausgerichtet. Diese Diskrepanz verschiebt sich weiter zugunsten des Autos, solange die Suburbanisierung voranschreitet. Fahrgäste und Fahrzwecke lassen sich nicht mehr so bündeln, wie es für den Linienbus- und Schienenverkehr notwendig ist. Die Pluralisierung von Lebensstilen und -lagen, wie es im Soziologendeutsch heißt, stehen dem entgegen. Immer weniger wollen nur von A nach B. Komplizierte Wegeketten werden häufiger, die am leichtesten mit dem Auto zu bewältigen sind.
Nicht nur die Wege und Verkehrszeiten werden flexibler, gleichzeitig steigen die Komfort- und Sicherheitswünsche. All das sind Gründe, die dafür sprechen, daß der von Brög geforderte massenhafte Wechsel in der Verkehrsmittelwahl genau in die andere Richtung geht. Denn Brögs Korridorthese in der Verkehrsmittelwahl schließt auch die Möglichkeit des Umsteigens vom ÖPNV auf das private Auto ein.
Wenn das stimmt, reichen eine bessere Öffentlichkeitsarbeit und Imagekampagnen der Verkehrsbetriebe nicht aus, sondern dann müssen die „hard policies“ angegangen werden. Was sind aber die Alternativen zum klassischen ÖPNV?
Vor allem muß er „individueller“ werden und damit den gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung tragen. Wie das aussehen kann, hängt von den örtlichen Bedingungen ab, vor allem vor den Siedlungsstrukturen. Ideen und angepaßte technische Konzepte sind verstreut zu finden. Anrufsammeltaxen, wie sie in einem Pilotversuch von der Volkswagen AG im ländlichen Kreis Leer getestet wurden, sind ein erfolgreiches Beispiel.
Ebenso wichtig ist, die „Schnittstellenprobleme“ beim Wechsel verschiedener Verkehrsmittel zu verringern. Die Rezepte sind bekannt: nicht nur Park + Ride, sondern auch Bike + Ride, ein besserer Komfort und Service und Ampelvorrangschaltungen. Ansonsten ist viel Phantasie beim Umbau von ehemaligen Transportbehörden zu umfassenden Mobilitätsdienstleistern gefragt. Die regionale Mobilitäts-AG könnte auch eine eigene Autoflotte für Car- Sharing-Angebote oder Vermietung betreiben, Fernreisen, Flugtickets und Mietfahrrärder aus einer Hand anbieten. Innovationsfreudigkeit ist nötig – die allerdings durch die rechtlichen und verkehrspolitischen Rahmenbedingungen in keiner Weise angeregt wird. Im Gegenteil: Im Kernstück der ÖPNV-Finanzierung, dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, sind die Prinzipien des alten Nahverkehrs mit seinen Stadt- Umland-Verbindungen und seinen fahrzeugtechnischen „Großgefäßen“ festgeschrieben. Stadtbahnen und Busbahnhöfe sind demnach förderungswürdig, ein Anrufsammeltaxi auf Basis eines VW Caravelle oder Car-Sharing- Stationen hingegen nicht.
Meilenweit von der derzeitigen Praxis entfernt sind solche Projekte, die die Individualisierungstendenzen radikalisieren und dennoch nicht beim Privatauto enden – zum Beispiel eine flächendeckende Taxiflotte für Berlin oder das reichweitenbeschränkte Leihauto vor der Haustür mit dem Kunstnamen Tulip.
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