„Aber damals, da war's toll“

Wiederentdeckte Wandgemälde im Haus Schulterblatt 92 machen die Vergangenheit des Schanzenviertels zwischen Flora und Pferdemarkt lebendig. Ein Bilderbogen  ■ von Karin Flothmann (Text) und Markus Scholz (Fotos)

„Auf'm Schulterblatt, da war's immer einmalig toll.“ Amalie Behrmann kommt ins Schwärmen, wenn sie an die Zeit zurückdenkt, als sie ein Mädchen war. „Da gab's das Belle-Kino, Ringkämpfe und Trapezkünstler in der Flora, und direkt ums Eck, in der Eimsbütteler Chaussee, das Theater des Westens.“ Damals, in den 20er Jahren, lebte Amalie Behrmann im Schanzenviertel. „Jetzt kann man das da doch vergessen“, meint die 77jährige abschätzig. „Aber damals ...“

Als sechsjährige Göre vertrieb sich Amalie die Zeit damit, bei den „Koppelknechten“ herumzulungern. Die arbeiteten für die Viehhändler des Viertels, etwa für die Pferdehandlung H. Ahmling in der Juliusstraße. „Die Tiere wurden damals per Handschlag verkauft“, erinnert sich Amalie Behrmann. Spannender als Ahmling aber waren die Koppelknechte: „Die ließen uns manchmal mit den Pferden einmal ums Karree laufen, weil sie lieber ein Schnäpschen trinken wollten. Wer zuerst zurück war, kriegte nen Groschen.“

Heute, im Jahr 1996, erlebt die Pferdehandlung Ahmling eine unverhoffte Renaissance: Bauarbeiter entdeckten sie auf einem Wandgemälde, als sie im Ladenlokal am Schulterblatt 92 Vertäfelungen und Zwischenwände herausrissen. Links daneben prangt der Michel, aus dem ein Stromkabel ragt. An einem Pfeiler prangt ein Seemann im Rettungsring. Und auf einem weiteren großflächigen Wandgemälde ist der Neue Pferdemarkt zu sehen: Fuhrwerke auf dem ovalen Platz, im Hintergrund flanieren einige Menschen – das Bild erinnert an die Jahrhundertwende.

Entstanden sind die Wandmalereien jedoch frühestens Ende der 20er Jahre. Denn am Pferdemarkt existiert schon die „Shell Garage Sauerberg“, auch wenn kein einziges Auto die Idylle mit Pferd trübt. Diese erste Hochgarage Deutschlands wurde Ende der 20er Jahre eröffnet, ihre Bauzeichnungen datieren vom 11. April 1926. Heute steht der Klinkerbau – Beim Grünen Jäger 11 – unter Denkmalschutz. Die „Garage Sauerberg“ ist immer noch in Betrieb.

„Mein Vater hatte in den 30er Jahren dort auch ein Auto steh'n“, erinnert sich Heinz Tümmann. Der 64jährige wuchs in den 30er und 40er Jahren im Nachbarhaus, am Schulterblatt 88, auf. Unten, im Ecklokal im Haus 92, war damals zunächst ein Billard-Salon. Anfang der 30er Jahre gehörte der einem Mann namens Pietsch, später dann dem Pferdehändler Jonny Kleinwort. Ein durchtriebenes Schlitzohr soll dieser Kleinwort gewesen sein. Möglich, daß er die Wände seines Lokals mit dem Pferdemarkt zieren ließ, ohne auf historische Details allzu genau zu achten. Sein Salon, ein Treffpunkt der Viehhändler, wurde irgendwann Anfang der 40er Jahre dichtgemacht. „Von Amts wegen“, erinnert sich Heinz Tümmann.

Schon bald darauf gingen einige der Wandbilder wohl hinter Mauern und Umbauten verloren. Ein Teil des Kellers wurde zum Luftschutzraum umgebaut. Oben, im früheren Billardsalon, wurden Lebensmittelkarten ausgegeben.

Auch Werner Bohnsack kennt den Salon noch von früher. Als Junge stromerte der heute 74jährige oft durchs Schanzenviertel. Die Schulterblatt-Insel mit der BP-Tankstelle, zwischen Billardsalon und Flo-ra, war sein Kinderzimmer. „Dort konnten wir unsere Roller ölen oder die Räder aufpumpen. Manchmal haben wir auch beim Tanken geholfen – das ging noch per Pumpschwengel.“

Ein Stück weit die Straße runter lag damals die Kneipe von Max Dibbern. Dort im Hinterhof stapelten sich die leeren Schnapsfässer. „Über die haben wir uns auch hergemacht“, kichert Werner Bohnsack noch heute. Von leer war da keine Rede. „Die Reste genügten uns völlig ... Mann, waren wir manchmal blau!“

Von den Ringkämpfern in der Flora besorgte er sich Autogramme, kleine Mädchen wurden gern mal gepiesackt, und als die Nazis den Gastwirt der „Künstlerklause“ an der Ecke zur Susannenstraße holten, skandierte Werner Bohnsack im Chor mit anderen Kindern: „Herr Wölk ist jetzt im KZ. Der darf sich jetzt konzentrieren. Das is ne dolle Erholung!“ Zehn war er damals. Heute ist er froh, daß Gastwirt Wölk den Nazi-Terror überlebte.

Albert Schmidt erinnert sich an andere Dinge: „Ich bin Schulkind dahinten gewesen, in der Ludwigstraße 9.“ Das Schulterblatt war sein täglicher Schulweg. Nach dem Unterricht zogen die Jungen los, mal zum Pferdemarkt, um dort bei „Kaspar Rose“ zu schauen, welches Stück diesmal im Kasperletheater gegeben wurde.

Ein anderes Mal, im Jahr 1930, zogen sie hinter der Schallmeien-Kappelle der Kommunisten her – bis zum Sternschanzen-Bahnhof. Dort kam gerade ein Zug voller Nazis an. Bei der folgenden Straßenschlacht verdrückten sich die Jungen. „Die Schlacht an der Sternschanze“, hieß es anschließend im NS-Jargon. Elf Menschen wurden dabei verletzt, einer getötet. „Da ham se den Dreckmann erschossen, den alten Nazi“, erklärt Albert Schmidt lakonisch.

Im Januar 1934 wurde die Susannenstraße in „Heinrich-Dreckmann-Straße“ umbenannt. Im Eingang des heutigen Lokals „Frank & Frei“ erinnerte ein Schild an den Tod des „heldenhaften“ SA-Manns. Als nach dem Krieg die Engländer in Hamburg einmarschierten, erhielt die Susannenstraße ihren früheren Namen zurück. Das Schild verschwand.

Mit den Engländern kamen die ausländischen Zigaretten ins Schanzenviertel. Südlich der Eisenbahnbrücke standen die meisten Häuser noch. Ins Schulterblatt 92 zogen die Ausgebombten; in jedem Zimmer der geräumigen Wohnungen lebte nicht selten eine ganze Familie. Ins Ladenlokal zog für kurze Zeit die „Adler- Apotheke“.

Anschließend, so erinnert sich Heinz Tümmann, „war's wieder ne Kneipe, diesmal ein Treffpunkt der Schwarzhändler“. Egal, ob in der Susannen- oder der Rosenhofstraße, „die ganze Ecke war oft schwarz vor Menschen“. Da wurde gekungelt, getauscht und gehökert, was das Zeug hielt. „Und wenn es mal eine Razzia gab, dann stürzten alle davon, und wir Jungs merkten uns genau, wo die Schwarzhändler ihre Zigaretten versteckten.“ Ein einträgliches Geschäft für den damals 15jährigen.

Vera Möller hatte es nicht so gut getroffen. 1947 war sie sieben und lebte direkt über dem Ladenlokal am Schulterblatt 92. Im Dezember tauschte sie damals heimlich Lebensmittel gegen Geld – niemand in der Familie durfte davon wissen, das hätte Ärger gegeben. „Und dann hab ich meinen Vater zu Weihnachten 'ne Ami-Zigarette gekauft. Zehn Mark hat die gekostet.“