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Wildwest in Kurdistan

Eine eigenartige Busfahrt ins alttestamentarische Obermesopotamien vom Euphrat zum Tigris  ■ Von Gerd Schumann

Der Abend dämmert. Die Luft am „Otobüs Terminali“ flirrt immer noch staubig und warm. Natürlich hatten vorher Adanas geschäftstüchtige Taxifahrer erzählt, daß heute keine Busse mehr in Richtung irakische Grenze fahren. Ebenso natürlich stellte sich am Busbahnhof das Gegenteil heraus. Jetzt rufen aus allen Ecken Muezzins zum letzten Gebet, während ein orangefarbenes Gegenlicht jede Menge Minarette in Silhouetten verwandelt.

Allah ist groß und macht Abraham, den alttestamentarischen Kultstifter, zu „Ibrahim“. Abraham lebte mit seiner Frau Sarah um 1850 vor Christi – andere Quellen sprechen von 1200 – in der geschichtsträchtigen Tiefebene Obermesopotamiens. Dann nahm ihn Gott unter seine Fittiche und sprach: „Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden“ (1. Mose 12,3). Als sei Abraham im Zwischenstromland verflucht worden, reichen sich dort über die Jahrhunderte hinweg Not und Elend die Hand. Bald zwanzig Jahre herrscht Ausnahmezustand in den kurdischen Provinzen der Südosttürkei.

Anderthalb Millionen Lira kostet der 800-Kilometer-Trip durch Nordwest-Kurdistan: 25 Mark – fast geschenkt. Der Manager des Reiseunternehmens, ein Mann lang wie breit, fragt, ob sich Zerbrechliches in unseren Rucksäcken befinde, wir sagen: nein, wir hätten keine rohen Eier dabei, und er will sich schier darüber kaputtlachen, während einige Kinder geschickt bunt-phosphorisierende Jo-Jo-Scheiben an fast unsichtbaren Bändern auf- und niedertanzen lassen. Surrealistisches Spielzeug vor den grellgrünen Neonröhren eines Teehauses. Das Gepäck verschwindet im Busbauch. Die Fahrt in die Region zwischen Euphrat und Tigris, oder wie die biblischen Traditionsflüsse hier heißen: vom Firat zum Dicle, kann beginnen.

Draußen fliegen schemenhaft Konturen der alten Cukurova- Sümpfe vorbei, in denen Yașar Kemals „Memed mein Falke“ geboren und zum Banditen wurde. Mit seiner geliebten Hatce war Memed geflohen und hatte deren zwangsverordneten Bräutigam bei der Verfolgung erschossen. Er ging in die Berge, wo er zu einer Art „kurdischer Robin Hood“ wurde.

Eine Frau steigt ein. Sie hat weder Ticket noch Geld und Habe. Es stellt sich heraus, daß sie einer häuslichen Hölle knapp entronnen ist: einfach abgehauen und vier Kinder, darunter ein ganz kleines, zurückgelassen. Die Leute sagen, wenn eine Mutter so etwas tut, dann stieß das Messer schon auf den Knochen, dann hat der Mann sie dermaßen mißhandelt, daß ihrer Verzweiflung nur noch ein Weg blieb: zurück zu den Eltern dreihundert Kilometer östlich.

Der Busfahrer setzt schon wieder zu einem Überholmanöver an. Zwei entgegenkommende Scheinwerfer verfehlt er nur knapp. Die hohe Unfalldichte auf der E 90 bleibt auf ihrem alten Stand. Während die halsbrecherische Wirklichkeit außerhalb des Fahrzeugs stattfindet, bietet der Schaffner drinnen Cola und TV. Pantoffelkinobus: Im Fernseher ganz knapp unter dem Blechdach des Bugs läuft eine klamaukige Komödie. Niemand lacht. Ein tapsiger Dummkopf soll seine Frau erschießen, weil sie im Traum fremdgegangen ist. Zwei Frauen hinter uns unterhalten sich. In Diyarbakir sei jüngst eine Ehefrau ermordet worden. Ihr eigener Mann, sagt die eine, habe sie früher geprügelt. Das sei vorbei, denn sie wehre sich jetzt. Der Film ist aus, und der Schaffner erzählt, daß mit Straßenkontrollen erst ab Mardin zu rechnen sei. Das ist noch weit.

Rast gegen Mitternacht. Großer Saal, weiß gekalkt, Garküche, Auberginen mit Reis, weiße Bohnensuppe, ein Glas Ayran dazu, Joghurtmixgetränk, zum Abschluß Cay, Tee aus dem Samowar, zwei Stück Zucker. Der Bus wird inzwischen von außen gewaschen und von innen parfümiert, was nicht zu überriechen ist. Einzug nach Mesopotamien bei Birecik, wo eine Brücke über den „sehr breiten“ Euphrat führt – so die Übersetzung des Namens aus dem Assyrischen. Ab hier wird Vorderasiens größter Fluß schiffbar. Vom anderen Traditionsfluß Dicle trennen uns jetzt 450 Kilometer.

Nachtfahrt durch Sanliurfa, Provinzhauptstadt, die auch im Bus nur „Urfa“ genannt wird wie früher. Viel „Ruhmvolles“ – „Sanli“ – weist die Stadtgeschichte nicht auf. Ellenlang handelt sie von fremden Herrschaften, von Mongolen und Alexander und Kreuzrittern und Byzantinern und Osmanen. Der Legende von Ibrahim wird noch heute gehuldigt, wenn Pilger aus aller Welt dessen Quelle „Ayn Ibrahim“ an Urfas Rand aufsuchen. Angeblich befreite Gott seinen Abraham aus einer mißlichen Stellung auf brennendem Scheiterhaufen, indem er mit gewaltigen Regenmassen das Feuer löschte. So entstand Abrahams See, und die angekokelten Holzscheite wurden zu dicken Fischen. Ein Reichtum versprechender Mythos, der in nicht allzu fernen Zeiten auch dem nördlich von Urfa gelegenen Atatürk-Staudamm zufallen soll: als „Ayn Ibrahim Nummer 2“ oder „hoch zwei“ – gigantischer Heilsbringer, der mit dicken Fischen, viel fruchtbarem Land und noch mehr Strom die kurdische Frage wegzaubern und der PKK-Guerilla das Wasser abgraben soll. Derzeit allerdings fürchten Ökologen eher eine Übersalzung und in Folge Verwüstung der Region, während Kulturdenkmale in den angestauten Fluten untergehen.

Je weiter die Straße nach Kurdistan hineinführt, desto schmaler und löchriger wird sie. Kurvenartistik gehört zur Fahrt durchs Armenhaus des Nahen Ostens ebenso wie starke Nerven. Gegen fünf steigt vorne ein Uniformierter in den Bus, in der Mitte ein weiterer mit vorgehaltener Maschinenpistole. Ausweise raus. Mulmiges Grummeln in der Magengegend. Weiterfahren.

Der Morgen graut. Vor Mardin ragen gespenstische Betonskelette halbfertiger Hochhäuser aus dem Berghang. Oben auf steilwändigem, geköpftem Hügel thronen die Kuppeln einer Radarstation, Nato- Horchposten nach Osten. Steinhäuser am Südhang, treppab aneinandergepappt, Blick über die kahlen Weiten Syriens, keine zwanzig Kilometer zum arabischen Nachbarstaat, dessen Norden ebenso kurdisch besiedelt ist wie der türkische Süden. Grenzgebiet, an Nusaybin vorbei Richtung Cizre. Der späte Herbst präsentiert eine verschlossene Landschaft unter punktgenau stechender und zugleich unwirklich kalter Sonne, durchkreuzt von windschiefen Strommasten, vereinzelt angereichert mit leeren tönernen Flachbauten, verlassen, verfallend. Nie nachlassender Wind schmirgelt an schwarzen Fensterlöchern. Auf endlosen, von mittelmonumentalen Gebirgszügen umsäumten Ebenen ernten dauergebückte Pflückerinnen in bunten Kleidern die letzten Baumwollfelder ab. Folklore, aber nicht lustig. Einzelne Gestalten in flatternden Umhängen auf Wegen, die sich schnurgerade durch erosierte Flächen, karg und erdlos, bis zum Horizont ziehen.

Die zweite Kontrolle überstehen wir nicht. Aussteigen. Der Offizier behält an der Abzweigung zum Ort Dicle, acht Kilometer entfernt, unsere Papiere. Der Bus wartet nicht. Wir stehen im Freien, Wachtürme hinter Stacheldraht und Felsmauern, gülden schimmernde Atatürk-Büste auf Altar vor roter Halbmond-Fahne, türkische Farben auch auf der Pistole des Kommandeurs, hektische Telefongespräche. Ein Militärposten von vielen, fortähnlicher Bau. Wildnord-Kurdistan. Igelstellung besonders nachts, wenn die Roten von der Guerilla die Soldiers von der Armee angreifen könnten. Spiegel unter Autos geschoben. Menschen bis auf die Haut durchsucht. In dieser Ecke des Landes verschwindet so mancher in Wachen und Folterkellern auf Nimmerwiedersehen. Ein ehemaliger Soldat sagt in Günay Aslans preisgekrönter Reportage „33 Kugeln“: „Ich selbst habe die Abscheulichkeit dieses Geschehens erst begriffen, als ich wieder Zivilist war. Dort bist du wie ein Roboter, Bruder. Im Zivilleben begann ich mich selbst wie einen Verbrecher, wie eine Bestie zu sehen. Es gibt dort weder Menschlichkeit noch Ehr und Glauben, noch Gewissen.“

Uns schützt der deutsche Paß, derweil zwei kurdische Fischhändler gestoppt werden. Kleintransporter beschlagnahmt, Ausweise kassiert: Die bekämen sie erst wieder, wenn sie uns zur Polizei nach Cizre und danach zur Grenze gebracht hätten. Der Beifahrer sagt, es täte ihm unendlich leid, was die Soldaten mit uns machten. Eigentlich sei Kurdistan gastfreundlich, sagt er und erklärt uns zu Freunden – und zu Feinden die, die verboten haben, den auf dem Autodach unter praller Sonne verderbenden Fisch abzuladen. Langes Schmoren vor Cizres Polizeikaserne, Bewaffnete äugeln durch Schießscharten, der Befehlshaber speist gerade, Verwirrung greift um sich, irgendwann lassen sie uns fahren. Auflage: Ohne weiteren Halt zur Grenze.

Rechter Hand eine antike Mauer, die Cizres Friedhof umfaßt, hinter der die Erschossenen vom kurdischen Neujahrstag „Newroz“, dem 21. März 1992 liegen, als Armee und Jandarmas aufzogen. Wir überqueren den Tigris, übersetzt: „der Pfeil“. Doch der im Frühjahr wasserreichste Fluß Vorderasiens schleppt sich nur müde und träge dahin. Der Kleintransporter unserer kurdischen Freunde passiert zunächst eine beeindruckende Kriegsgerätesammlung, Panzer, Jeeps, Geschütze aus alten DDR-Beständen, „NVA-Verkaufslager“ genannt, deutsche Liebesgabe an den türkischen Nato- Partner. Dann geht es an einer leeren Zeltstadt vorbei, Flüchtlingslager aus dem zweiten Golfkrieg, als Saddam im März 1991 den aufrührerischen kurdischen Nordirak überfiel und „seine“ Kurden vertrieb.

An der türkisch-irakischen Grenze schließlich nur noch Hitze und Beton. Wachtürme im Niemandsland zwischen Nord- und Südkurdistan. Für uns ist hier der Wendepunkt einer niemandem zu empfehlenden Reise auf alttestamentarischem Terrain.

Zurück also nach Silopi. Von dort fährt immer ein Bus, allerdings selten Fremde, und wenn, dann Transitreisende zur oder von der UN-Schutzzone nördlich des sechsunddreißigsten Breitengrads. Vor uns sitzen drei unauffällige, die Fußballzeitung Fanatik studierende Herrn vom anderen Stern. In der Nähe der mit Spezialausweisen ausgestatteten Geheimpolizisten wird Kurdistan zum Land des Schweigens. Wieder kommt die Nacht, und wieder müssen Menschen aussteigen, gehorsam in der Reihe, und ein junger Mann darf nicht weiter, bleibt draußen in der Dunkelheit, allein mit einer Soldateska, die das Unrecht für sich gepachtet hat.

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