: Ein Haus zum Verrücktsein
Das erste „Weglaufhaus“ zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt wird am 1. Januar 1997 ein Jahr alt. Bilanz: chaotisch. Urteil einer Bewohnerin: phantastisch ■ Von Thomas Loy
„Wenn Sie Fotos machen wollen, dann ohne Straßenschild“, sagt Veronika, eine der Mitarbeiterinnen des Weglaufhauses. „Wir haben keinen Bedarf an ungebetenen Gästen.“ Gemeint sind Väter, Freunde oder Ehepartner der Hausbewohner. Menschen aus der Zeit vor der psychischen Krise, die sie meist mit verursacht haben.
Das Weglaufhaus, das erste in Deutschland, funktioniert ähnlich wie ein Frauenhaus. Wer hier anklopft, erhält einen Schutzraum, kann maximal sechs Monate bleiben und bekommt Hilfestellung zu jeder Zeit, in der sie angefordert wird, 24 Stunden am Tag. Aufgenommen werden Menschen, die aus der psychiatrischen Behandlung geflohen sind oder einfach entlassen wurden. Menschen, die nicht länger im Dämmerzustand zwischen Realität und Wahn, gelähmt von Psychopharmaka, bevormundet von Ärzten und Pflegern leben wollen. „Die Leute, die zu uns kommen, wollen den Kopf frei kriegen, sich wieder als Mensch fühlen“, erklärt Veronika, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte. Als Menschen werden sie auch behandelt, nicht als Patienten. „Verrückte Äußerungen und Handlungen werden im Weglaufhaus nicht als krank diffamiert“, heißt es im Konzept der Einrichtung, die am 1. Januar ihr „Einjähriges“ feiert. „Es ist Raum da, stinknormal zu sein, aber auch Raum, um total bekloppt zu sein“, sagt Dunja, eine Bewohnerin.
„Das Weglaufhaus versteht sich als Gegeninstitution zu allen Formen der Psychiatrie, den stationären wie den ambulanten, den großen Anstalten wie den kleinen mobilen Formen der sozialen Psychiatrie.“ Das ist der Kernsatz des Konzepts. „Wir lehnen nicht nur Gewaltanwendung in der Psychiatrie ab, sondern auch die Gewalt, die von der Psychiatrie als Institution ausgeht“, sagt Daniela, eine Mitarbeiterin.
Die Realität hat allerdings gezeigt, daß diese grundsätzliche Ablehnung nicht durchzuhalten ist. Wenn jemand das Zusammenleben im Weglaufhaus nicht aushalten kann, bleibt oft nur eine psychiatrische Einrichtung. Das Weglaufhaus ist mittlerweile ins Netz der vielen ambulanten und stationären psychiatrischen Einrichtungen eingewoben, deren Existenzberechtigung es in Frage stellt.
Von diesem wird es aber überwiegend akzeptiert. Der Präsident der Ärztekammer, Ellis Huber, gehört zum Beirat des Hauses. Auch die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie unterstützt das Projekt aktiv: „Das Fixieren und Zuknallen mit Medikamenten ist in vielen Kliniken noch Realität. Das sehen wir auch als problematisch an“, sagt Michaela Hoffmann, stellvertretende Geschäftsführerin der Gesellschaft. „Es gibt Kranke, die sich nicht therapieren lassen wollen“, sagt Dieter Stahlkopf, Sozialarbeiter an der Karl- Bonhoeffer-Nervenklinik. Für diese Zielgruppe eigne sich das Weglaufhaus, das er eher als eine „Obdachloseneinrichtung mit hohem Personalaufwand“ betrachtet. Allerdings wehrt er sich gegen die Verteufelung von Psychopharmaka und die Aufweichung des psychischen Krankheitsbegriffes.
Als Gegner des Weglaufhauses gab sich bei einer Telefonumfrage nur Dr. Uwe Büchner, Chefarzt im Krankenhaus Spandau, zu erkennen. „Das Weglaufhaus ist überflüssig – Patienten brauchen Behandlung. Das Bild der Psychiatrie, das von seinen Vertretern gezeichnet wird, ist überholt. Psychiatrische Kliniken sind keine Verwahranstalten mehr.“ Daß die Selbstbestimmung des Patienten in den psychiatrischen Einrichtungen ihre Grenzen habe, räumt Büchner vorbehaltlos ein: „Psychiatrie bedeutet Freiheitsentzug. Der Amtsarzt stellt eine Krankheit fest. Der Patient fühlt sich notwendigerweise entmündigt.“
Genau dieser Freiheitsentzug ist den sieben Mitarbeitern des Weglaufhauses ein Greuel. Sie haben zumeist selbst negative Erfahrungen in der Psychiatrie gesammelt – auch das gehört zum Konzept. Die Bewohner treffen so oft zum ersten Mal nach Jahren wieder auf Menschen, die sie verstehen, weil sie ähnliches durchgemacht haben.
Um in das System sozialer Einrichtungen aufgenommen zu werden, mußten die Initiatoren des Weglaufhauses eine dicke Kröte schlucken. Aufgenommen werden nur Psychiatrie-Betroffene, die zugleich obdachlos sind. Viele Interessenten sind nicht obdachlos und müssen abgewiesen werden, obwohl noch Plätze frei wären. „Wir können den Leuten ja nicht sagen, sie sollen ihre Wohnung aufgeben“, sagt Veronika. Die Finanzierung des Hauses hängt seit seiner Gründung im Januar 96 an einem seidenen Faden. Für jeden der maximal 13 Bewohner muß mit einem der 23 Sozialämter um die Kostenübernahme gestritten werden. Der Tagessatz von 206,60 Mark liegt über denen von Obdachlosenunterkünften (zwischen 50 und 100 Mark pro Tag), aber weit unter denen psychiatrischer Kliniken (500 Mark). Einige Sozialämter verlangen die Untersuchung des Antragstellers durch den Sozialpsychiatrischen Dienst – für viele ehemalige psychiatrische Patienten eine Zumutung, begann doch beim SpD zumeist ihre Kliniklaufbahn.
Zwölf Monate Erfahrung im Haus resümiert Veronika als „chaotisch“. Die Zeit, die sie eigentlich mit den Bewohnern verbringen wollten, sitzen die Mitarbeiter auf Ämtern ab, verbringen sie mit dem Ausfüllen von Anträgen, Abrechnungen. Längst ist das Weglaufhaus selbst zu einer Institution geworden, muß um der Finanzierung willen viele Kompromisse eingehen, die dem Konzept entgegenlaufen. Die bürokratische Eintrittsschwelle ist für viele Leute von der Straße zu hoch.
Die Mitarbeiter versuchen, den Gang durch die Institutionen so durchsichtig wie möglich zu halten, damit bestehende Verfolgungsängste nicht auf andere Personen im Haus projiziert werden. Jeder Bewohner wählt sich einen Ansprechpartner, zu dem sie besonders Vertrauen gefaßt hat. Es werden Ärzte vermittelt, die eine Therapie anbieten oder beim Absetzen von Psychopharmaka helfen. „Wir wollten eigentlich ein ganzes Netz antipsychiatrischer Einrichtungen aufbauen“, sagt Veronika, aber daran sei bei den knappen Ressourcen an Geldern und Personal überhaupt nicht zu denken.
Die bisher als Patienten behandelten Menschen, zu passiven Pflegekonsumenten degradiert, bekommen im Weglaufhaus Verantwortung übertragen, müssen sich den täglichen Arbeitsanforderungen eines gemeinsamen Haushalts mit Einkaufen, Abwaschen und Putzen stellen. Sie werden nicht bevormundet, verwahrt oder gar bemuttert, sondern sollen wieder lernen, selbst zu denken und zu handeln. An die Stelle von Psychopharmaka tritt eine intensive Betreuung. Tagsüber ist immer eine Mitarbeiterin, nachts sind sogar zwei ständig ansprechbar. Das einzige therapeutische Mittel ist der Alltag und das Zusammenleben mit sensiblen, eigenwilligen Menschen. „Wenn die Leute hier rausgehen, sollen sie mutiger und selbstsicherer sein“, sagt Veronika.
Zehn Jahre haben die Mitarbeiter des Trägervereins gekämpft, um ihr Projekt zu verwirklichen. Vorbilder waren Weglaufhäuser in den Niederlanden, die Ende der siebziger Jahre entstanden. Ins Rollen kam das Vorhaben erst, als 1989 ein Bürger dem Verein eine Million Mark spendete. Wenig später war ein passendes Haus gefunden, nach jahrelangem politischen Tauziehen bewilligte der Senat eine Kostenübernahme nach § 72 Bundessozialhilfegesetz.
Das Weglaufhaus liegt im gutbürgerlichen Randstadtteil Frohnau, zehn Zimmer mit Garten. Die Nachbarn steigen auf die Barrikaden, seit das Wort Psychiatrie die Runde gemacht hat. Eine Bürgerinitiative hat sich gebildet und mehrere Klagen angestrengt. „Unvernünftige irrationale Ängste“, kommentiert Dieter Stahlkopf. Eines hat das Weglaufhaus offenbar mit den meisten psychiatrischen Einrichtungen gemeinsam: Von den angeblich normalen Menschen in Einfamilienhäusern hinter Vorgarten-Hecken werden die angeblich Verrückten gemieden.
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