: Sitzriesen im Bauklötzchenstreit
■ Der Kino-Bauboom in Hamburg hält unvermindert an. In diversen Stadtteilen werden neue Großkinos geplant, doch immer mehr Fachleute fragen sich inzwischen laut: Braucht die Stadt wirklich noch mehr Multiplex-Kinos?
Sie projizieren Hollywood auf die Leinwand und glauben fest an ein Happy-End im Widerstreit von Kino-Bau-Boom, Stadtentwicklung und Wirtschaftlichkeit: Filmtheaterbetreiber und Investoren planen neue Hamburger Großkinos, was die Grundstücke der Hansestadt hergeben. Ob an der Behringstraße in Othmarschen, der Mundsburg in Barmbek oder im Einkaufszentrum Harburger Carré, überall sollen Riesenkino-Freizeitkomplexe a la Cinemaxx am Dammtor mit 2.000 Besucherplätzen und mehr entstehen.
Anwohner fürchten stinkende Pkw-Lawinen auf ihre Wohngebiete zurollen, konventionelle Kinobesitzer bangen um ihre Existenz, Kulturschaffende warnen vor dem Ende der Filmvielfalt, Politiker erinnern an den Büro-Bau-Boom der 80er Jahre und anschließenden Leerstand. Derweil verkommen Hamburgs Stadtplaner, anstatt steuernd einzugreifen, zu reinen, dafür aber fachlich versierten Baugenehmigungsinstanzen.
Mit den Sitzriesen am Grindel (2.000 Plätze), am Dammtor (2.700) und am Gänsemarkt (3.400) etabliert sich Mitte der 90er Jahre auch in Hamburg – nach dem Vorbild der Großstädte an Rhein und Ruhr – eine Kinogeneration der neuen Art: Multiplexe sind im Kommen. 76 Kinosäle mit insgesamt 15.612 Plätzen zählte das Statistische Landesamt noch im Jahr 1995, Tendenz steigend: „Dammtor und Gänsemarkt waren damals ja gar nicht eingerechnet“, weiß Ingo Mix, Sprecher der Kulturbehörde. Unerfaßt blieben auch die vielen Projekte, die derzeit in den Schubladen der Hamburger Bezirksämter auf Genehmigung warten.
Allein in Altona sind in einem Radius von fünf Kilometern drei miteinander konkurrierende Kino-Neubauten im Gespräch: Die Erweiterung der Zeise-Kinos in Ottensen um 850 Plätze wurde bereits im September beschlossen. Das vom Investor Bernhard Garbe geplante Wohn- und Gewerbegebiet auf den Flächen der ehemaligen Margarine-Union an der Behringstraße in Othmarschen soll im kommenden Jahr um ein 2.500-Sitze-Cinemaxx ergänzt werden. Schlechte Aussichten hat dagegen das gleich große und von den Entwicklern des Gaswerk-Geländes in Bahrenfeld Hollmann, Peters, Vogler (HPV) favorisierte Kino. Behring- und Gasstraße, darüber sind sich örtliche Parteien, Stadtplaner und Investoren einig, liegen zu nah beieinander, als daß sich beide Kinos wirtschaftlich tragen würden.
HPV, die im Gegensatz zu Garbe weder über ein genehmigungsfähiges Verkehrs- noch Finanzierungskonzept verfügen, sind benachteiligt. Denn beim Kino-Neubau ist der Erfolg hauptsächlich von der Schnelligkeit abhängig: „Gibt es keine planungsrechtlichen Einwände, haben wir kaum noch Möglichkeiten, ein Projekt zu stoppen. Im Zweifel genehmigen wir nach zeitlichem Eingang der Anträge“, schildert der Altonaer Stadtplanungschef Curt Zimmermann die gängige Praxis.
„Sechs weitere Großkinos“, erklärte Thomas Mirow (SPD), in Personalunion Senator für Stadtentwicklung und Medien, kürzlich gegenüber der taz, halte er angesichts einer Einwohnerzahl von 1,7 Millionen „in den kommenden fünf bis acht Jahren in ganz Hamburg für realistisch“. Allein in dem 400.000-Einwohner-Bezirk Wandsbek aber sind derzeit vier Kinobauten beantragt: am Friedrich-Ebert-Damm (2.500 Plätze), im Einkaufszentrum Wandsbeker Quarree (1.200), an der Wandsbeker Zollstraße (2.500) sowie an der Holzmühlenstraße (800).
Dem geplanten 1600-Plätze-Kino im Einkaufs-, Wohn- und Gewerbezentrum Harburger Carrée werden dagegen allseits gute Aussichten bescheinigt, denn südlich der Elbe läuft der Standort außer Konkurrenz. Auch an der Mundsburg (2.500 Plätze) sowie am Nobistor (1.600 Plätze) ist mit einem Baubeginn im kommenden Jahr zu rechnen. Angezweifelt wird dagegen die Realisierung eines weiteren Kinos in bester St. Paulianer Sahnelage am anderen Ende der Reeperbahn, anstelle der ehemaligen Bowlingbahn, die jetzt noch ein Musical-Theater und den Mojo-Club beherbergt.
Wer sich das ganze Filmtheater angucken soll, ohne bei dem Überangebot mit eckigen Augen und einem hoffnungslos überzogenen Bankkonto zu enden, weiß in Hamburg eigentlich niemand so recht. Mit Ausnahme der FDP Wandsbek. Von wegen Kinoruinen und Gebäudeleerstand! Die Kämpfer für eine freiheitlich-demokratische Großkinoordnung präsentierten jüngst ein Umfrageergebnis, wonach sich 63 Prozent der Befragten für ein Cinemaxx in – richtig, Wandsbek ausgesprochen hätten.
Sonstige Zweifel räumt Thomas Schulz, Sprecher der Hamburger Betreibergesellschaft Flebbe Filmtheater GmbH, die neben ihrem Cinemaxx-Projekt am Dammtorbahnhof in die weiteren Multiplex-Planungen am Nobistor und in Harburg involviert ist, gern mit statistischem Zahlenbeweismaterial aus dem Weg. Drei von vier Kinogängern, das haben seine Bedarfsanalysen ergeben, sind derzeit jünger als 29 Jahre. Das soll sich ändern: Mit höherem Sitz-Komfort und besserer Tonqualität, weiß Schulz, lassen sich auch „ältere Menschen weg vom heimischen Video hin ins Kino“ locken. So sei es der Flebbe GmbH in Hannover bereits ein Jahr nach Eröffnung ihres dortigen Cinemaxx' gelungen, die Zahl der Besucher über 30 Jahre im Vergleich zu herkömmlichen Kinobetreibern um zehn Prozent zu steigern. Außerdem erhöhe sich erfahrungsgemäß „die Besuchshäufigkeit“ nach der Multiplex-Eröffnung in einem 40-Kilometer-Radius „um den Faktor 1,5 bis 2“. Soll heißen: Ging nach Auskunft des Statistischen Landesamts jedeR HamburgerIn im Jahr 1995 durchschnittlich 2,3 mal ins Kino, müßten es künftig mindestens 3,8 bis 4,3 Besuche sein.
Schulz rechnet sich für Hamburg sogar noch größere Wachstumschancen aus: „Man muß den Leuten nur klar machen, daß der Mief der 70er Jahre aus den Kinos verflogen ist.“ Im bundesdeutschen Städtevergleich (größer als 500.000 Einwohner) liege Hamburg, was die Kinogang-Frequenz angehe, noch im „unteren Mittelfeld“.
„Ausgerechnet Hamburg“, widerspricht ein Stadtplaner aus dem Bezirk Nord, „bietet doch ein so vielfältiges, anderweitiges kulturelles Angebot, daß die Leute hier ganz selbstverständlich weniger ins Kino gehen als in Rostock.“
Doch es sind nicht nur die Bedenken bezüglich der Kino-Auslastung, die skeptisch stimmen. „Das Harburger Carrée wird auch sehr viele Kinobesucher aus den Umlandkreisen anziehen“, schätzt Harburgs Stadtplaner Michael Scheuermann. Diese Entwicklung führt zur Abwanderung vom örtlichen Kino. Deren Betreibern droht der nackte Überlebenskampf.
„Tendenziell“, das bestätigt die Untersuchung „Kommerzielle Freizeitgroßeinrichtungen“ (1994) des Dortmunder Instituts für Landes- und Stadtentwicklungsforschung (ILS), „wird das Kino-Mehrangebot jedoch zu einer Umverteilung der Besucherzahlen führen, wobei die Multiplex-Kinos aufgrund ihres qualitativ höheren Ausstattungsstandards Attraktivitätsvorteile gegenüber den traditionellen Kinobetrieben aufweisen.“ Demzufolge sei längerfristig mit „einer Reduzierung der traditionellen Kinobetriebe (Schwerpunkt Kleinstädte und ländlich strukturierte Regionen) zu rechnen“.
Die „Arbeitsmarkteffekte“ der Multiplex-Kinos dagegen seien „als gering einzustufen“. Mehr als 80 Prozent der Beschäftigten arbeite in der Regel auf Teilzeit.
Jens Meyer, Regionalsprecher der Arbeitsgemeinschaft Kino, unterstellt der Stadt, die „Verdrängung der Programmkinos billigend in Kauf“ zu nehmen. Solange Hamburg Kino-Großinvestoren mit günstigen Grundstückspreisen und Ausnahmeregelungen für zu schaffende Parkplätze hätschele, seien jährliche Fördermittel in Höhe von knapp 300.000 Mark für die acht „Filmtheater mit unverzichtbarer, künstlerisch orientierter Programmgestaltung“, derer sich die Kulturbehörde rühmt, lächerlich. „Seit Bestehen des Cinemaxx“, beklagt Meyer, „haben die umliegenden Kinos Umsatzrückgänge um bis zu 50 Prozent“.
Die Gefahr der „lokalen Konkurrenz“ sieht selbst der Verwaltungsdirektor der UFA-Theater AG, Manfred Glöde. Mittelfristig, zu diesem Fazit kommmt Volker Maaß vom GAL-Kreisverband Nord in seiner Bewertung zum geplanten Mundsburg-Kino, würden zudem „Existenzgründungen von Stadtteilkinos mit alternativem Filmangebot unwahrscheinlicher“.
Anwohner von Großkino-Standorten graust es hingegen vielmehr vor verstopften Straßen und nächtlichem Motorengeheul. Ob in Ottensen, Bahrenfeld oder Barmbek-Uhlenhorst: Überall haben sich schon lange vor Realisierung der Bauvorhaben Bürgerinitiativen gegründet, die gegen drohende Verkehrsprobleme im Stadtteil mobil machen. Mindestens 90 Prozent der Besucher von Kinos mit Autobahnanschluß (z. B. Othmarschen) kommen dem ILS zufolge mit dem Pkw; unklar ist, wieviele bei den Standorten mit ÖPNV-Anschluß tatsächlich auf ihr eigenes Auto zu verzichten gewillt sind.
„Illegales Parken“ und „gefährliche Situationen“ für Fußgänger hat der CDU-Abgeordnete Berndt Röder seit Öffnung des Cinemaxx am Dammtor beobachtet. Selbst „Radfahrer“ müßten sich „auf dem Radweg durch dichte Menschenmengen durchklingeln“ und suchten zudem „vergeblich Fahrradständer“.
„Kinos ziehen nun mal Verkehr an“, so der Kreisvorsitzende der SPD-Altona, Olaf Scholz, pragmatisch. Scholz fordert „vernünftige“ Verkehrskonzepte mit Parkplätzen für Anwohner und Tiefgaragen für Kinobesucher. Wer aber, wie die Bahrenfelder Investorengruppe HPV, „lediglich kostengünstige oberirdische“ Stellplätze bauen wolle, habe keine Chance. Da helfe auch kein Flehen des HPV-Geschäftsführers Niels Hollmann, das gesamte Projekt „Ortszentrum Bahrenfeld“ auf dem alten Gaswerksgelände sei gefährdet, falls „das Großkino als Publikums-Magnet“ nicht bewilligt werde.
Derweil sieht der Baudezernent des Bezirks Mitte solch drohendem wirtschaftlichen Ruin gelassen entgegen. „Wenn sich ein Gebäude nach ein paar Jahren als architektonische oder finanzielle Fehlplanung erweist“, schlägt Peter Gero vor, gehöre es eben abgerissen. „Solche Flexibilität schafft Freiräume für städtebauliche Visionen“, sagt er, und es klingt, als rede er von Kulissen in Hollywood.
Heike Haarhoff
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen