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Skelettfrauen und böse Wölfe

Mit Kindermärchen haben die Erzählungen der vierzig MärchenerzählerInnen der Stadt wenig gemein. „Sanft therapeutische Wirkung“  ■ Von Christoph Schäfer

„Es war einmal ...“, sagt Benedicta Hirsch und schwingt dabei den rechten Arm, als würde sie sich selbst dirigieren. Mit leiser, aber deutlicher Stimme erzählt sie von einem Eskimo, der sich in eine „Skelettfrau“ verliebt. Von einem verschrumpelten Greis, der in einem Ochsenhorn wohnt. Oder von einem Hühnchen, das seine Geschwister übers Ohr haut. Ihr Tonfall wird selbst dann nicht tantenhaft-belehrend, als der „böse Wolf“ das niederträchtige Hühnchen tottrampelt und frißt. Die Teilnehmer einer studentischen Adventsfeier hören gebannt zu. Und als danach ein Student eine Diskussion über den Symbolgehalt der Märchen anstrengt, quengeln zwei andere: „Erzähl doch lieber noch eins.“ Sie setzen sich durch.

Benedicta Hirsch ist eine von rund 40 Frauen und Männern, die in Berlin als Märchenerzähler auftreten. Diese Zahl schätzt ihr Kollege Horst Dieter Klock, der seit sieben Jahren die „Berliner Märchentage“ organisiert. Er schränkt jedoch ein: „Exakte Angaben gibt es nicht. Denn es ist gar nicht genau geklärt, was ein richtiger Märchenerzähler ist.“

Vati und Mutti, die am Kinderbett eine Gutenachtgeschichte improvisieren, sind jedenfalls nicht damit gemeint. So sieht es jedenfalls Linde Knoch von der Europäischen Märchengesellschaft in Rheine, obwohl sie betont: „Natürlich ist das ebenfalls sinnvoll und wichtig.“ Linde Knoch ist für die Erzählförderung zuständig – und hat in Wochenendkursen etwa 180 Schülern das Erzählen beigebracht: Studierenden, Hausfrauen und Rentnern. Allen gemein sei jedoch „eine gewisse künstlerische Ader“.

Die angehenden Erzähler lernen Aussprache und Atemtechnik, aber auch Märchentheorie. Zum Beispiel die kulturellen Unterschiede beim Ezählen. Das Happy End etwa ist ein typisch europäisches Phänomen. In Afrika gehen die meisten Märchen für europäisches Empfinden traurig aus. Bei indianischen Märchen dagegen bleibt der Schluß häufig in der Schwebe. Märchenforscher sehen darin einen Ausdruck der verschiedenen Weltbilder. Das Märchen sei jedoch trotz dieser Unterschiede überall eine wichtige Form gewesen, um Erfahrungen zu verarbeiten und weiterzugeben.

Daß Märchen „nicht nur ein Zeitvertreib für kleine Kinder“ sind, erkannte Benedicta Hirsch bei ihrer Ausbildung zur Erzieherin: „Auf einmal spürte ich, wie lebendig die Bildersprache der Märchen ist.“ Sie absolvierte Erzählkurse der Märchengesellschaft und spezialisierte sich auf nordische Märchen. Eine finnische Geschichte erzählt sie besonders gern: Hartnäckig weigert sich eine Prinzessin, ein kleines Vergehen zu bekennen – und wird gerade dadurch zum Schluß belohnt. „Das widerspricht wohltuend unseren konventionellen Moralvorstellungen“, sagt sie. Aber auch das Märchen vom Rotkäppchen gehört fest zu ihrem Repertoire. „Darauf reagiert das Publikum besonders heftig. Es ruft wohl viele Kindheitserinnerungen wach.“ Diese Emotionen faszinierten sie. „Viele Leute sind am Anfang ganz nüchtern und werden im Lauf des Abends wieder ein bißchen zu kleinen Kindern.“ Darüber hinaus hätten Märchen eine „sanft therapeutische Wirkung“: Sie seien verschlüsselte Angebote, sich mit den eigenen Problemen zu befassen.

„Das Fernsehen geht da viel brutaler vor“, findet Märchenerzähler Klock. Daher sei es keineswegs schädlich für kleine Kinder, wenn man ihnen Märchen erzähle, wie das manche Pädagogen behaupteten. „Die meisten Kinder setzen sich die grausamen Szenen im Kopf so zusammen, daß sie sich nicht zu sehr fürchten“, sagt er. Dieser Schutzmechanismus falle dagegen beim Fernsehen weg.

Benedicta Hirsch hat ihre Märchen auswendig gelernt. Das lehnt ihr Kollege Horst Dieter Klock strikt ab: „Märchen erfindet man am besten aus dem Bauch heraus immer wieder neu“, betont er. So könne man das Publikum auf eine ganz besondere Weise anrühren.

Obwohl beide Erzähler nicht von den Märchen leben können, haben sie einen hohen professionellen Anspruch. Sie wehren sich auch gegen das Image der lieben, aber etwas dümmlichen Märchentanten oder -onkels. „Leider sind die Erzähler auch selbst daran schuld“, sagt Benedicta Hirsch. Es reiche nicht aus, sich ein Biedermeierkostüm anzuziehen und in einen Lehnstuhl zu setzen, wie das manche praktizierten. Das Publikum lasse sich jedoch zu leicht mit Kitsch zufriedenstellen. Im Gegensatz zu einem Konzertpublikum sei es nicht geschult, mangelnde Qualität zu erkennen.

„Manche Leute hängen einfach ihre Adresse an einen Laternenpfahl und bieten an, Märchen zu erzählen“, ergänzt ihr Kollege Klock. Diese Amateure verderben den „Profis“ die Preise: Sie nehmen 50 Mark für den Auftritt, ausgebildete Erzähler dagegen bis zu 500 Mark. Vom Idealismus der Amateure könnten sich viele geschulte Erzähler allerdings eine Scheibe abschneiden. So dürfe man bei Angeboten zum Erzählen nicht pingelig sein und müsse jedes Angebot von Bibliotheken, Schulen oder auch Geschäften ernst nehmen: „Ich habe auch schon zwischen Wurst- und Käsetheke Märchen erzählt.“

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