Der Fußball spiegelt den tristen Alltag wider

Der Besuch eines Erstligaspiels in der bulgarischen Provinz ist heutzutage eine eher freudlose Angelegenheit. Wo einst Krassimir Balakow das Publikum verzauberte, herrscht angesichts der ruinösen Verhältnisse inzwischen stille Duldsamkeit  ■ Aus Tarnovo Wolfgang Kehl

In der Schlange der Dunst von Schnaps und Rauch. Kein Anlaß zur Hektik, auch fünf Minuten vor dem Anpfiff gibt's noch genügend Tickets. Mit sprödem Charme schubst die Dame eine Eintrittskarte zum Preis von umgerechnet 50 Pfennig aus ihrem Kassenhäuschen. Die Platzherren vom „Sportclub Etar“ Veliko Tarnovo, bulgarischer Meister der Saison 94/95, erwarten den Renommierclub ZSKA Sofia. Zumindest auf dem Papier gute Voraussetzung für ein spannendes Spiel vor vollen Rängen. Denn ein Spiel gegen eine der prominenten Mannschaften aus Sofia wie ZSKA oder Levski lockt erfahrungsgemäß mehr Zuschauer ins Stadion als die Spiele unter den Provinzmannschaften der „A Grupa“.

Die Erwartung wird enttäuscht: Gerade mal die überdachten Plätze von Tribüne und Gegengerade sind besetzt. In den Kurven kein Mensch. Summa summarum fünftausend Zuschauer für das Erstligaspiel des Siebten gegen den Tabellenführer. Der Blick ins Publikum zeigt, daß es sich hier an diesem trüben November nachmittag um das Vergnügen des kleinen Mannes handelt: Von den Vornehmen und Schönen, wie sie die Boutiquen und Cafés der Altstadt bevölkern, verirrt sich kaum einer hierher. Keine schicken Joppen und Bundfaltenhosen. Statt dessen abgewetzte Lederjacken oder die unvermeidlichen Tarnfarben-Kittel aus Armeebeständen über bunten Trainingsanzügen. Keine vornehmen Duftwässerchen, statt dessen der Dunst von schlechten Zigaretten und Fusel. Die Profis unter den Zuschauern haben eine Zeitung gegen die Kälte der verrosteten Metallsitze dabei. Jeder kaut auf irgendwelchen Kernen herum und spuckt gekonnt die Schalen aus.

Die Leute warten ab, nur Gemurmel, auch beim Einmarsch der Gladiatoren. Keine Fähnchen, keine Tröten, keine Schals, keine Gesänge für die lilafarbenen Kicker aus Tarnovo. Nur ernste Mienen – genau wie draußen auf den Straßen, in den Geschäften, im Omnibus. Aus den Gesichtern der Leute ist jede Heiterkeit verschwunden. Wer doch einmal lacht, lacht zynisch. Kein spontaner Ausdruck von Lebensfreude. „Der Sport für eine friedliche Welt“ steht auf dem bröseligen Beton der Gegentribüne, aber nichts zu sehen von Friede und Freude. Nur auf der Gegengeraden grölt eine Hundertschaft Sofioter Fans mit rot-weißen Schals, weniger ausgelassen-fröhlich als laut-aggressiv. Den Union Jack haben sie über die Bande gehängt, ganz wie ihre Vorbilder, die westlichen Fanclubs.

Die Mannschaften laufen ein. Alle zweiundzwanzig stellen sich auf, winken nach hier, winken nach dort, und los geht's. Kein Schnickschnack um die Seitenwahl, kein Händeschütteln der Kapitäne. Keine zwei Minuten nach dem Einlaufen pfeift der Schiri an, was übrigens niemanden zu größeren Gefühlsaufwallungen veranlaßt: Die Leute auf den Rängen sitzen da, als würden sie eigentlich auf den Bus warten. Dabei geht es in diesem Spiel um mehr als um Punkte und Tore: Sofia ist in der bulgarischen Provinz wenig beliebt, weil die Hauptstädter im Rufe stehen, sich im zentralistisch organisierten Bulgarien permanent an der Provinz zu bereichern. Und so sähe man es gerne, wenn die Abzocker aus der Hauptstadt wenigstens mal auf dem Fußballfeld die Verlierer sind.

Sind sie aber nicht, denn die Roten schießen schon nach zehn Minuten das erste Tor. Die Zuschauer murren, es kommt zu verstärktem Kernekauen und Kerneausspucken. Einer im Trainingsanzug gehört zu den wenigen, die das Spiel lautstark kommentieren, die anderen leiden im Stillen und warten ab. Duldsam nimmt man den unglücklichen Gang der Dinge zur Kenntnis. Und wie das Spiel so dahinplätschert, komme ich mit einem Endzwanziger neben mir ins Gespräch: „Jedes Heimspiel“, antwortet er auf die Frage, ob er öfter hier sei. Fast entschuldigend für das laue Spiel doziert er, daß Tarnovo und der bulgarische Fußball früher viel besser gewesen seien.

„Früher“ – das ist vor 89 und die ersten Jahre danach. Da sei das Stadion auch voll gewesen. Er zählt die Fußballgrößen auf, die Tarnovo hervorgebracht hat und die heute alle im Westen und für Bulgarien in der Nationalelf kicken: Zanko Zwetanow, Ilian Kirjakow und Bonchu Genchec, alle in England, das „Ungeheuer“ Trifon Ivanow bei Rapid Wien und Krassimir Balakow in Stuttgart. Der Liebling sei eindeutig Balakow, den sie schon deswegen alle mögen, weil er als einziger den Sprung ohne die Zwischenstation Sofia geschafft und zuerst bei Sporting Lissabon und dann beim VfB Stuttgart gelandet ist. Na ja, und heute, nun, man könne nicht sagen, daß Tarnovo schlecht ist, aber eigentlich doch schwach.

Knappe Antwort auf die Frage, warum die Zuschauer sowenig mitgehen: „Sind Slawen.“ Die unvermeidliche „slawische Seele“ als Erklärung? Jeder Bulgare, der einem Fremden etwas von sich und seinem Land erzählt, landet irgendwann bei der Völkerpsychologie, und wer nicht an sie glauben mag, muß die „slawische Seele“ zumindest als real existierende Legende hinnehmen.

Die slawische Seele ist aber wirklich nicht schuld an der trübseligen Stimmung im Stadion, finden die Unidozentin Nelli, 40, und ihr Mann Petko, mittlerweile arbeitsloser Journalist, der nun Holzdecken zimmert. Im Gegenteil, wenn die slawische Seele nur könnte, ginge es hoch her im Stadion. Aber Bulgariens katastrophale Situation lastet schwer auf den Seelen: Arbeitslosigkeit, Inflation, Zukunftsangst. Nelli hat früher Basketball gespielt, Petko Fußball, und Petko hat auch kein Heimspiel von Etar Tarnovo versäumt. Früher. Sie gehören zu denen, die, geplagt von finanziellen Sorgen und Zukunftsangst, die Öffentlichkeit meiden und in die innere Emigration gegangen sind. Sie gehen nicht mehr zum Fußball ins Stadion. Wenn schon Sport, dann über Satelliten-TV. Nellis 17jähriger Sohn betet auf Wunsch die Tabellen der westeuropäischen Ligen herunter, und bei aller Begeisterung für Sport klagt Nelli doch darüber, wenn ihre beiden Männer wieder stundenlang Sport im Fernsehen schauen.

Es hat den Anschein, daß Fußball in Bulgarien nicht, wie man's kennt, zur 90minütigen Flucht aus dem Alltag taugt, sondern vielmehr den bedrückenden Alltag widerspiegelt. Das Argument, in anderen armen Ländern, zum Beispiel Südamerikas, sei Fußball gerade deshalb so begehrt, weil er beim Vergessen helfe, zieht nicht. Dort, so erwidert Nelli, werde ja trotz der bedrückenden Lebensbedingungen attraktiver Fußball geboten.

In Bulgarien dagegen herrscht Ausverkauf, auch bei den Vereinen: Wer kann, geht weg, und darunter leidet die Qualität des bulgarischen Fußballs. Die Nationalmannschaft, so ist zu erfahren, sei die nunmehr einzige Elf, bei der die Leute noch aus dem Häuschen geraten. Da treten die Helden an, die es im Westen zu was gebracht haben. Wer Sport schaut, um zu vergessen, tut dies im Fernsehen und nicht im Stadion. Die Satellitenschüsseln auf den Dächern selbst in den ärmsten Vierteln der Stadt zeigen, daß sich diesen Fluchtweg niemand nehmen läßt. Auch kaum eine Kneipe, in der nicht täglich durch die Sportsendungen aus ganz Europa gezappt wird. Station wird natürlich am liebsten bei den Sendern gemacht, die gerade eine Begegnung zeigen, in der ein bulgarischer Spieler mitwirkt.

Für die mageren Zuschauerzahlen im Stadion ist aber nicht nur die sinkende Attraktivität der Spiele verantwortlich, sondern auch die eingangs erwähnten 50 Pfennig. Der Jugendtrainer von Etar Tarnovo bringt das Problem auf den Punkt: „50 Pfennig, das ist soviel wie für ein Brot. Es gibt verdammt viele Leute, die sich genau überlegen müssen, für was von beiden sie das Geld ausgeben wollen: Brot oder Fußball.“ Weshalb nicht nur Verzagte den Stadien fernbleiben oder solche, die mit einer gewissen Arroganz sich von allem Bulgarischen abwenden, sondern auch solche, die es sich einfach nicht leisten können.

Krassi Kalcew, Co-Trainer der ersten Mannschaft, sitzt auf dem Sofa im Vereinsbüro und blättert bescheiden im Fotoalbum von der Meisterfeier 1995. Er erzählt nicht überschwenglich, nicht sentimental, nicht wehleidig, er erzählt ernst und ruhig. Da habe der innerbulgarische Fußball zwar auch schon nachgelassen, aber wenigstens ist man in Tarnovo noch mal Meister geworden, das Stadion war voll, und zur Meisterfeier sind auch die verlorenen Söhne Tarnovos Balakow und Co. erschienen. Krassko Balakow sei sein Freund, erzählt Kalcew. Und die Meisterfeier ein großer Tag! Kalcew deutet auf die Wimpel an der Wand – Kaiserslautern, Groningen, Prag und viele mehr sind schon in Tarnovo angetreten. Er selbst hat zehn Jahre lang für Tarnovo gekickt, über 300 Spiele. Und Kalcew versteht, warum nur noch wenige ins Stadion kommen und die wenigen so den Kopf hängenlassen: Noch nie sei die Situation in Bulgarien derart deprimierend gewesen, und jeder, aber auch jeder werde davon angesteckt. Kalcew bemüht nicht die große Vergangenheit, um zu vergessen – aber auch nicht die Zukunft, um zu hoffen.

Während Kalcew so erzählt, gesellt sich Georgi Wasilew dazu, Trainer von ZSKA Sofia. Er stammt aus Tarnovo, hat jahrelang Etar trainiert und fährt auch jetzt mehrmals die Woche nach der Arbeit heim in die Provinz. Wasilew gilt natürlich nicht als einer der ungeliebten Sofioter und geht bei seinem alten Verein ein und aus. Er hat mit den Spielern aus Tarnovo gearbeitet, die jetzt im Ausland groß herausgekommen sind, und erzählt, wie angenehm es gewesen sei, in der Provinz allmählich und ohne Druck Talente zu fördern und eine Mannschaft aufzubauen. Jetzt, bei ZSKA, gebe es nur die Devise, auf Teufel komm raus Meister zu werden, jedes Jahr, egal wie. Da bleibe keine Zeit für gezielte Nachwuchsarbeit. Natürlich verdienen die Spieler, allesamt Profis, gemessen an bulgarischen Verhältnissen nicht schlecht. Aber bei den ruinösen wirtschaftlichen Verhältnissen bleibe kein Spieler in Bulgarien, der ein Angebot aus dem Westen bekommt. Darum sei es auch kaum möglich, eine Mannschaft aus guten Spielern über längere Zeit hinweg zusammenzuhalten: Wer kann, haut ab – des Geldes wegen.

Hat Wasilew mit seinem Wechsel nach Sofia auch getan. Und die bunten, noch jungen Sportzeitungen machen montags oft genug nicht mit Spielergebnissen auf, sondern mit den neuesten Meldungen aus der Spielerbörse. Slavia Sofia verhökert seinen Keeper für 400.000 Dollar nach Zaragoza, Letchkow hat gerade Ärger mit seinem Verein Olympique Marseille und so weiter und so fort.

Die Vereine sind auf Spielerverkäufe angewiesen. Das Eintrittsgeld der Zuschauer langt hinten und vorne nicht. Zwar haben Vereine wie ZSKA dank ihrer Verkäufe halbwegs solide Finanzen, aber in der Provinz? Typisch für die Situation von Etar Tarnovo, daß die Energieversorgung im Stadion den Strom abdreht, weil der Verein ein paar Monatsrechnungen im Rückstand ist. Die Punktspiele finden zwar statt, aber die Mannschaft hat inzwischen Schwierigkeiten, ihr Trainingsprogramm durchzuziehen.

Das Sponsoring hat längst nicht westeuropäische Ausmaße erreicht. Im Stadion von Tarnovo stehen ein paar frisch lackierte Banden mit der Reklame von Geschäften für Satellitenfernsehen, neuen Banken, der heimischen Brauerei und der neugebauten Colafabrik. Das bringt ein paar Farbkleckse ins Novembergrau, scheint aber im Publikum nicht besonders stimulierend zu wirken. Einer mit einem Pappkarton als Bauchladen kommt vorbei, aber keiner kauft teure Limonade. Die Cola kostet mehr als der Eintritt, und wer Durst hat, kauft dem Händler höchstens einen Kaffee aus der Thermoskanne ab, oder er trinkt gleich irgendwo aus dem Wasserhahn.

Zwei-, dreimal versieben die Einheimischen hundertprozentige Chancen zum Ausgleich in einem sonst eher mäßigen Kick. Kein Pfeifen, kein Aufschrei, höchstens ein „Ouuu“ und dann wieder Gebrumm. Im Stadion überwiegt anscheinend die Überzeugung, daß man am Ende wieder mal zu den Verlierern gehören wird – so wie oft genug an den anderen sechs Tagen der Woche. Die Prophezeiung erfüllt sich, und so verlieren die Einheimischen zum ersten Mal seit zehn Jahren auf eigenem Boden gegen die Hauptstädter. Triste Zeiten. Die elf violetten Verlierer auf dem Platz trollen sich, die 5.000 Nicht-Sofioter auf der Tribüne ebenfalls. Abgehakt, kein Kommentar. Hätte man sich ja auch denken können.