: Melodrama ohne Geigen
Vor einem Jahr starb Heiner Müller. Klaus Theweleit (West) hat dem Dichter (Ost) einen kleinen, großen Text gewidmet und versucht, ihn aus der Brecht-Nachfolge herauszueisen ■ Von Stefan Reinecke
„Ich hab's gut. Ich muß nicht zu meiner Beerdigung. Aber ihr müßt.“ Heiner Müller, Herbst 1995
„traumtext“ heißt Heiner Müllers letzter zu Lebzeiten veröffentlichter Text: ein Prosagedicht, zwei Seiten kurz. Ein Requiem. Müller träumt sich, mit seiner zweijährigen Tochter auf den Schultern, in ein Wasserbecken. Die Mauern aus Beton, kein Ausweg in Sicht. Ein Abschiedstext, schmerztrunken, gerichtet an die Tochter, die keinen Vater haben wird. Er endet mit der Zeile: „BLEIB WEG VON MIR, DER DIR NICHT HELFEN KANN mein einziger Gedanke, während ihr fordernd vertrauender Blick mir hilflosem Schwimmer das Herz zerreißt.“
Ein typischer Müller-Text: In kalt-präzisem Ton wird Existentielles verhandelt (das eigene Verlöschen, die vergebliche Liebe zur Tochter). Der Text beginnt mit einem ungewohnten Wort: „Ich“. Das ist ein Novum für Müller, den Beobachter, den kühlen Arrangeur historischen Materials, der kaum je ein dramatisches Ich etablierte. Dieses Ich erlaubt er sich erst im Angesicht des Todes. „traumtext“ ist ein Melodrama ohne Geigen.
Müllers opus magnum, sein posthumes Vermächtnis, sollte das Stück „Germania 3“ werden. Ein theatralischer Rundumblick, in dem der Autor noch einmal die Gespensterwelt und Lichtgestalten herbeizitiert, die ihn vierzig Jahre lang beschäftigten: die Nibelungen und Hitler und Stalin und Shakespeare und Brecht. „Germania 3“, eilig fertiggeschrieben angesichts des nahenden Todes, wurde eine Art Sampler. The best of, remastered by H. M. himself. Alles kam vor, alles war bekannt. So wurde „Germania 3“ ein großer, kleiner Text.
„traumtext“ hingegen ist weder Poesie noch Prosa (oder beides). Müller hat ihn ein paar Wochen oder Monate vor seinem Tod in die Maschine getippt, später mit ein paar flüchtigen Korrekturen versehen. „traumtext“ ist vielleicht wirklich nur ein festgehaltener Traum. Und ein kleiner, großer Text.
Um die Beziehung von Ich und Text kreist die Arbeit von Klaus Theweleit. Theweleit arbeitet seit dem „Buch der Könige“ an einer Neudefinition literarischer Kritik: nicht Feuilleton, nicht akademische Literaturwissenschaft, sondern umfassende Reflexion der Produktions- und Lebensverhältnisse, in denen Kunst entsteht. Kein Zufall, daß Theweleit „traumtext“ und nicht „Germania 3“ in den Mittelpunkt seines 80 Seiten dünnen Müller-Essays rückt.
Vor zehn Jahren wäre dieses Büchlein nicht möglich gewesen; wegen deutsch-deutscher Fremdheit. Theweleits Sprache ist durchsetzt von Popsound und Anglizismen. Dieser Sprachmix ist das Echo der 68er Befreiung aus deutscher Enge – Müllers Sprache hingegen ist klassisch deutsch. Theweleit denkt filmisch, Müller theatralisch. Der Osten war Müller Heimat, für Theweleit Terra incognita. Der Realsozialismus, dessen Niedergang niemand luzider beschrieb als H. M., war der Sponti- Westlinken, der Theweleit entstammt, rundheraus verhaßt oder sogar schlicht gleichgültig. Theweleit schreibt einen mäandernden Stil voller Aus- und Abschweifung, die Sätze scheinen wie Sonden das Terrain auszumessen und sich in Schleifen permanent in Frage zu stellen. Müllers Stil hingegen ist oft von marmorner Anmutung: Sätze wie gemeißelt, knapp und monumental. Und so weiter. Will sagen: Ohne Mauerfall und vereintes Deutschland, das beide gleichermaßen aus ihren Bahnen warf, gäbe es dieses Büchlein nicht.
So beschreibt „heiner müller. traumtext“ eine Bewegung: eine Annäherung von Ferne, von Freiburg, vom Kinoblick, von der westdeutschen, antiautoritären Linken nach Ostberlin, zu Brechts Theater, dem Sozialisten Müller. Ein weiter Weg. Zumal Brecht im Theweleitschen Künstlerkosmos die Planstelle des „bad guy“ besetzt hat: B. B. gilt hier als der Großpolitiker, der den Künstler in sich verrät, der das Menschliche, Produktive dem Zwang unterwirft, das „Weibliche“ dem „Männlichen“.
Heiner Müller ist, in Theweleits Lesart, anders: Keiner, der Frauen opfern muß, um schreiben zu können. So erscheint „traumtext“ als Müllers „melancholisches Dementi“ von Brechts Übervaterpose, der uns noch aus dem Grab „aus der Diaspora des Kapitalismus in die kommunistischen Paradiese verweist“. (Theweleit) Müller, Thronfolger des großen B. B. in der Reihe sozialistischer Klassiker und sein Nachfolger am Berliner Ensemble, wird bei Theweleit zu dessen artistischem Widerpart.
Das ist, mit Verlaub, übertrieben. Theweleit scheint diese schroffe Konterkarierung zu brauchen: Um Müller für sich zu reklamieren, muß er ihn aus der Brecht- Tradition herauskatapultieren. Wenn Theweleit Müller paraphrasierend sagen läßt: „Ein Despot und Staatsdichter (wie Brecht) möchte ich nicht gewesen sein“ – dann ist der Ton gehörig schief. Auch wenn die Melodie stimmt. Denn Brecht feierte noch die „große Erzählung“ vom Sieg des Kommunismus, Müller fegte längst nur noch die Scherben zusammen. B. B. trug die Freundlichkeit wie eine Waffe vor sich her, Müller war einfach freundlich. Brecht trieb sich seine anarchische (Baal-)Zeit gründlich aus, Müller brauchte solche Abspaltungen nicht.
Ein Stasispitzel schrieb einmal über Müller: „Er läuft herum und versucht, den Leuten etwas zu spendieren. Das ist doch nicht normal.“ Dieses Nichtnormale, der Alltagsdissens zur Kleinbürgerdiktatur DDR, ist der magnetische Kern, der die Theweleit-Maschine in Gang bringt. So schwindet die Entfernung zu Osttheatersozialismus, die trotzdem (und mit keinem Wort reflektiert) zwischen den Zeilen spürbar bleibt.
Theweleit liest den scheinbar privaten „traumtext“ als politischen. Das „schwarze Wasser“, das Vater und Tochter durchwaten, assoziiert er mit dem Wasser des Landwehrkanals, in dem Rosa Luxemburgs Leiche trieb. Die Tochter – ist das nicht auch die Zukunft des eigenen Werks, die Müller nicht erleben wird: die „Werktochter“? Der „Kessel“, in dem Müller mit seiner Tochter im Kreis umherwandert, erinnert an den Kessel von Stalingrad, Sinnbild der im Kreis verlaufenden deutschen Katastrophe. Wird er Müller damit gerecht?
Nein, hat Lothar Müller in einem naßforschen Verriß in der FAZ geurteilt. Theweleits Blick sei der eines „trunkenen Philologen“, der den Dichter gnadenlos ins eigene, antideutsche Korsett zwängen will. Stimmt das?
Ich glaube nicht. Denn diese Kritik (der natürlich die ganze politische Richtung nicht paßt) verkennt Theweleits offenen Stil. Denn er schreibt ja gerade nicht akademisch-germanistisch, er wringt den Text nicht solange aus, bis der Sinngehalt herausgepreßt und korrekt abgebucht werden kann. Die mythologische Bilderwelten, die Theweleit aufruft, sind nicht nur ziemlich genau dieselben, die auch Müller immer wieder verwandte. Vor allem sind sie Resonanzböden, Gedankenblitze – ein assoziatives Wetterleuchten, das nicht zwingend in logischen Konstruktionen endet. Theweleit liest meist aus dem Text heraus, nicht in ihn hinein. So ist der Gestus seiner Lektüre stets ein öffnender, der die Texte in Schwingung bringt, der Räume schafft und keineswegs mit Großkritikerurteilen verstellt. Dieses Öffnen ist ein antiautoritärer Impuls, den man wohl nur mit einiger Böswilligkeit in professorale Bildungshuberei umdeuten kann.
Als Heiner Müller vor einem Jahr starb, hagelte es Nachrufe. Eine alldeutsche Vereinnahmung griff um sich, rechts wie links reklamierte den Dichter für sich. (Damals war man fast dankbar für jene eifrigen, fundamental-liberalen Germanisten, die Müllers Werk mit Polizeiblick auf anrüchige Stellen durchforsteten und ihre Funde freudig mit dem Etikett „totalitärer Denker“ präsentierten.) Müller wurde, kaum von der Bühne abgetreten, unweigerlich zu everybody's darling.
Gerade auf der Folie dieser „unfreundlichen Übernahme“ der Müller-Werke durch das nationale Feuilleton ist „heiner müller. traumtext“ ein notwendiges Korrektiv. Deutsche Dichter erstarren schnell zu Klassikern. Klaus Theweleits Essay, eine kleines, großes Büchlein, ist ein Mittel zur Verflüssigung.
Klaus Theweleit: „heiner müller. traumtext“. Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt/Basel 1996, 77 Seiten, 18 DM
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