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Es war ein ereignisreiches Jahr

■ Im vorauseilenden Rückblick auf 1997 zeigt sich das politische und kulturelle Leben der Hansestadt in all seinen Facetten – ein ergo gutes Neues wünscht Ihnen Ihre taz!

26.1.1997

Bei der Feier zur Verleihung des Bremer Literaturpreises kommt es zum Eklat. Der für seinen Roman „Rub'al Khali – Leeres Viertel“ mit dem renommierten Preis ausgezeichnete Autor Michael Roes verzichtet auf eine Dankesrede. Er sagt bloß „In der Ferne ist sich jeder selbst der Nächste“, schnappt sich den Scheck (30.000 Mark!) und flüchtet auf einem Fahrrad. Die kulturpolischen Sprecherinnen der SPD, CDU und Grünen, Carmen Emigholz, Elisabeth Motschmann und Karin Krusche schnaufen: „Das ist ja wohl der Gipfel“. Der Jury-Chef Rolf Michaelis (Die Zeit) schlägt vor, den Preis bis zum Jahr 2005 ehrenhalber an Günter Grass zu vergeben. Der Kulturladen Pusdorf erhebt Anspruch auf das eingesparte Geld.

31.1.1997

Bei der feierlichen Eröffnung des generalüberholten Konzerthauses „Glocke“ (anwesend: Prominente aus aller Welt, u.a. Friedrich Hennemann, Mypegasus, und Bringfriede Kahrs, Kultursenatorin) kommt es schon wieder zum Eklat: Wurde vor dem Glocke-Umbau der Hörgenuß regelmäßig durch quietschendes Gestühl gestört, hört man nun im Konzertsaal laut und deutlich die Spülung der Publikumstoiletten. 27 anwesende Akustikexperten erleiden einen Herzanfall, der bekannte Bremer Musikexperte Eberhard Kulenkampff („Bremen wird Musikstadt des Nordens!“) entleibt sich vor den Augen des FAZ-Kritikers.

28.2.1997

Die Wirtschaftsbehörde der Hansestadt bewilligt einen Förderantrag der Kulturinitiative „Anstoss“, die im Internet eine eigene Homepage einrichten möchte. Am gleichen Abend erklären drei Mitglieder von „Anstoss“, Kunsthallenchef Herzogenrath, Weserburg-Leiter Deecke und Radio-Bremen-Intendant Klostermeier gegenüber „Buten & Binnen“, daß „Anstoss“ sogenannte „Denk-ANSTÖSSE“ geben wolle. „Anstoss“ sei als Wortspiel zu verstehen im Sinne von „Stoßen, An-Stoßen“, d.h. man wolle „Impulse“ geben, notfalls sogar „anstößig“ wirken, ohne jedoch jemals „abstoßend“ auftreten zu wollen. Thomas Deecke wörtlich: „Wo kann man heutzutage besser an-stossen als im Internet?“ (http://www.anstoss.de).

9.3.1997

Der alle fünf Jahre zu vergebende Wiegand-Preis des deutschen Lokaljournalismus geht an den Weser-Kurier, Bremen. Besonders lobte die dreizehnköpfige Jury aus aller Welt – u.a. Friedrich Hennemann, Mypegasus, und Bringfriede Kahrs, Kultursenatorin – die Gestaltung und Formulierung der Überschriften. „,St. Pauli hat nahebei/nun ein neues Horthaus' ist ein Bravourstück der Sprachkomposition“, betont der Träger des Bremer Literaturpreises ehrenhalber, Günter Grass, in der öffentlichen Laudatio. Der Bremer Sprachexperte Eberhard Kulenkampff entleibt sich vor den Augen des Klatsch-Kolumnisten Martin Globisch.

24.3.1997

Die Bremer Erlebnisgastronomen Ulrich Mickan und Lazi Klein („Übersee“, „Scusi“) stellen der Presse ihr 1:100-Modell eines geplanten Multimedia-Sportlokals am Standort des ehemaligen „Filmstudio“ am Herdentor vor. „Wo die Presse schon mal da ist“ präsentieren die beiden auch ihr 1:100-Modell eines geplanten Kaffeemuseums hinter der Bürgerschaft sowie ihr Projekt, in ihren Gaststätten künftig nur noch delfinfreundlich gewonnenes Thunfischfleisch anzubieten. Ulrich „Mick“ Mickan: „Durch Lottomittel abgesichert.“

28.4.1997

New York: Am Broadway quittiert das Premierenpublikum die Uraufführung des Musicals „Dr. Hyde & Mr. Jekyll“ mit gellenden Pfiffen und Buhrufen. Die Kritiker schäumen. Aufgrund der entsprechenden ap-Meldung bildet am selben Tag der Planungsausschuß des Bremer „Musicon“ einen Krisenstab und tritt geschlossen zurück. Wirtschaftssenator Uwe Beckmeyer trifft sich zu einem Hintergrundgespräch mit dem Redakteur der „Kultur vor Ort“-Seite des Weser-Kurier, Peter Groth („Die Weser ist aus Bremen nicht wegzudenken!“). Während des Gesprächs stellt Beckmeyer seine Idee vor, statt des Musicons am Richtweg ein Erlebnisbad einzurichten. Denkbarer Name: Badicon.

30.4.1997

Beim Versuch in das Arbeitszimmer von Wirtschaftssenator Hartmut Perschau (CDU) einzudringen, wird der selbsternannte Wirtschaftssenator Uwe Beckmeyer (SPD) vorläufig festgenommen. Den Streifenbeamten gegenüber wiederholt er nur „Ich bin es! Ich bin es!“ Am gleichen Tag dementiert der Sprecher des „Musicon“-Förderkreis, Eberhard Kulenkampff, Berichte, nach denen der Planungsausschuß zurückgetreten sei. Das „Musicon“ sei das „Musicon“ und nicht etwa das „Musical“ oder „Badicon“. Auch die Begriffe „Glockicon“ oder „Mucke“ führten an den Tatsachen vorbei. Bei dieser Gelegenheit legt Kulenkampff ein vom Förderkreis in Auftrag gegebenes McKinsey-Gutachten vor. Demnach lasse sich das „Musicon“ für Betriebskosten in Höhe von monatlich 83.331,30 Mark unterhalten. Der Unternehmensberater Roland Berger hatte noch einen um 2,03 Mark höheren Betrag errechnet. Kulenkampff bezeichnete die neue Zahl als ermutigend. Die Kosten des Gutachtens (500.000 Mark!) seien durch Lottomittel abgesichert.

7.5.1997

Im Maiheft der renommierten Zeitschrift „Design oder nicht sein“ wird das unverkäufliche „Siemenshochhaus“ am Herdentorsteinweg erwähnt – als „vorauseilendes Beispiel für die Neue Schlichtheit in der Schluß-mit-lustig-Architektur der 90er“. Daraufhin erklärt die grüne Kultursprecherin Karin Krusche Bremen zur „Designstadt“, fordert der Leiter des Focke-Museums, Jörn Christiansen, Lottomittel und sponsert die Securitas-Galerie am Wall eine Homepage des De-sign-Zentrums Bremen.

22.5.1997

Nachdem die Dachdeckerinnung ihre „Dach & Wand“ abgesagt hat, öffnen die nagelneuen Bremer Messehallen ihre Tore erstmals und feierlich mit der Fachausstellung „Fisch & Fahrrad“, um deren Ausrichtung sich vergeblich sieben ostdeutsche Raiffeisenkassen beworben hatten. Weiterer Terminplan: Juni – Fachausstellung „Musikstadt“ des Deutschen Städtetages mit der Sonderschau „WAP und Lottomittel – so wird Bremen Musikstadt“ von Hermann Pölking-Eicken. Juli – „Bremen wird Tanzstadt“, eine Messe der Bremer Kulturbehörde (Lotto-Mittel). August – „Bremen muß Theaterstadt bleiben“, eine Messe der Kulturinitiative „Anstoss“ und der taz-Bremen. September – Bundeswehrmesse „Grün 97“ mit der von Hobbyhistoriker Bernd Neumann (CDU) überarbeiteten Sonderausstellung „So war die Wehrmacht wirklich“.

23.5.1997

Der personelle Umbruch beim Weser-Kurier geht weiter. Nach Wigbert Gerling (Fernsehseite), Rainer Mammen (erst Titelseite, dann Single-Telefon), Peter Groth („Kultur vor Ort“-Seite) und Heinz Holtgrefe (Bremer Anzeiger) haben sich jetzt auch Kulturchef Arnulf Marzluf und Lokalreporterin Erika Thies von ihren bisherigen Arbeitsplätzen verabschiedet. Thies arbeitet, eigenen Angaben zufolge, an einem Standardwerk über den Roland in Rolandia, Brasilien, und will vor Ort recherchieren. Marzluf kündigt die Veröffentlichung eines 5.343 virtuelle Seiten starken Hyperlink-Textes über den „Gottesbegriff in der Programmiersprache Java und im Format .html unter besonderer Berücksichtigung der Design-Stadt Bremen“ an. Neuer Kulturchef wird der Klatschkolumnist Martin Globisch.

2.6.1997

Wie erwartet hat der Aufsichtsrat der Theater Bremen GmbH die Verträge mit dem Intendanten Klaus Pierwoß und dem Generalmusikdirektor (GMD) Günter Neuhold nicht verlängert. Doch selbst für intime Kenner der Szene wie theater heute, Berlin, und Die Harke, Nienburg, überraschend präsentierte Kultursenatorin Bringfriede Kahrs (SPD) der Presse die Namen der Nachfolger. Neuer Theaterintendant wird Reinhard Lippelt, Regisseur des beim Festival „Politik im Freien Theater“ preisgekrönten Stückes „Orlando Nuñez“. Die GMD-Nachfolge treten die Wildecker Herzbuben an. „Ich freue mich, daß wir so schnell zu einer so eindringlichen Entscheidung gekommen sind“, erklärte Kahrs. Der bekannte Bremer Theaterexperte Eberhard Kulenkampff entleibt sich noch am selben Abend in der Theatergaststätte. Was den anwesenden Kulturchef des Weser-Kurier, Martin Globisch, zum Belcanto „Herzilein, Du mußt nit traurig sein“ hinreißt.

3.6.1997

Die Ereignisse in der Theaterkneipe überstürzen sich. Klaus Pierwoß („Dieser Neuhold vergrault mir alle Regisseure“) und Günter Neuhold („Dieser Pierwoß hoat koane Oaahnung von Mu-siik“) trinken Brüderschaft und kündigen an, künftig als Bremer Stadtmusikanten auf dem Liebfrauenkirchhof aufzutreten. Unter Ausnutzung der Abwesenheit der taz-Kulturredaktion (fünftägige Klausur zum Thema „Wie setzen Meldungsspalten unten rechts auf?“) ordnet Kultursenatorin Bringfriede Kahrs die sofortige Schließung des Theaters am Goetheplatz und des Schauspielhauses an. Der Theater-Betriebsrat verfaßt ein Grußtelegramm. Der Theater-Chor wird geschlossen in den Verwaltungsrat der neugegründeten Stiftung „Bremen muß Chorstadt bleiben“ übernommen. Der gegen eine Kaution von 3,80 Mark auf freien Fuß gesetzte Uwe Beckmeyer wird 1. Vorsitzender und plant das Chorwerk „Meine Jahre als Wirtschaftssenator“.

30.8.1997

Beim Eröffnungskonzert des Musikfestes in der Tchibo-Halle im Europahafen kann ein Eklat in letzter Minute abgewendet werden. Die 30minütige Hörprobe mit einer CD von Ernst Mosch und den Original Egerländern wird von den kulturpolitischen Sprecherinnen von SPD, CDU und Grünen, Carmen Emigholz, Elisabeth Motschmann und Karin Krusche, mit anhaltendem Applaus quittiert. Daraufhin weigert sich der Dirigent Simon Rattle, mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra aufzutreten. Als Ersatz verpflichtet der per Hubschrauber von seinem Landsitz in Mecklenburg-Vorpommern eingeflogene Musikfest-Chef Thomas Albert die GMDs Wildecker Herzbuben. Bei einer Spendensammlung zugunsten des Initiativkreises „Bremen wird Kabarettstadt“ kommen nach Konzertende 28,50 Mark zusammen.

31.8.1997

In den Räumen des „Jungen Theaters“ findet die Jahreshauptversammlung der „Europäischen Lacrimaporose-Liga“ statt. Die ELP-Liga hat sich der Bekämpfung einer seltenen Drüsenerkrankung („Trockenauge“) verschrieben. Keine Überraschung ist der diesjährige Träger der Tim-Fischer-Medaille: Tim Fischer selbst, der zu vorgerückter Stunde sein Publikum verzaubern darf. Ein Teilnehmer am nächsten Morgen: „Da blieb kein Auge trocken!“

11.11.1997

In der Sögestraße wird das neu aufgebaute „Karstadt Sport“-Haus feierlich eröffnet (anwesend: Prominente aus aller Welt, u.a. Friedrich Hennemann, Mypegasus, und Bringfriede Kahrs, Kultursenatorin). „Highlight“ ist die auf dem Dach eingerichtete 27-Loch-Golf-Anlage, die mit Lottomitteln finanziert wurde. Die obligatorischen Kunst-am-Bau-Mittel wurden für den Aufkauf eines Klangobjektes von Rolf Julius verwendet (mit Original-Tonaufnahmen „Nieselregen in Bremen-Nord“).

Burkhard Straßmann Christoph Köster

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