: Politik und Erinnerung
Neugierig, vielseitig, auf vornehme Art integer: mit der Aufsatzsammlung „Vom Nutzen des Vergessens“ hat das renommierte Einstein-Forum Potsdam seine erste Publikation vorgelegt ■ Von Fritz v. Klinggräff
Dem Land Brandenburg geht es nicht gut. Es hat, wie die inzwischen eingestellte Wochenpost einmal lakonisch anmerkte, die höchste Arbeitslosenrate, und in die Schlagzeilen kommt es vorzugsweise wegen rechtsextremer Ausschreitungen. Zudem hat das sozialdemokratische Herrscherhaus seit der mißglückten Berlin-Fusion Standortprobleme der mentalen Art. Da kann man doch mal anmerken, daß sich Potsdam mit dem Einstein-Forum immerhin ein Forschungszentrum leistet, das einen anständigen Etat hat – und einen guten Ruf.
Manche verbinden diesen Ruf mit der Person des Hausherrn, dem Leiter des Wissenschaftszentrums, Gary Smith. Der texanische Sohn deutsch-jüdischer Emigranten, Jahrgang 1954, ist Herausgeber der englischsprachigen Werkausgabe Walter Benjamins. Seit zehn Jahren lebt er in Deutschland. Aus seiner Denknische in Potsdam knüpft er an einem intellektuellen Netzwerk, das nicht nur die berlin-brandenburgischen Grenzen geflissentlich übersieht. Das Einstein-Forum gilt als feine Adresse – womit auch das schicke Domizil am Alten Markt gemeint ist, in dem auch unbekannte Gäste nett empfangen werden.
Ziel des Hauses ist die interdisziplinäre Auseinandersetzung von Geistes- und Naturwissenschaften. Und darauf steuert man mit einer gehörigen Portion wissenschaftlicher Neugierde zu. Kaum ein Modethema wird ausgelassen. Natürlich war Mandelbrot mit seinem Chaosbäumchen schon zu Gast, Derrida sprach über die Wahrheit der Lüge nicht nur im außermoralischen Sinn, und dem Thema „Osten“ (an dem im Brandenburgischen keine wissenschaftliche Einrichtung vorbei kommt, wenn sie von öffentlichen Geldern leben will) nähert man sich im Dezember auf „ambiviolenten“ Wegen: „Datenkonflikte – Osteuropa und die Geopolitik im Cyberspace“.
Das könnte ziemlich abgedriftet wirken, wenn die flotten Programme nicht zugleich eine fast vornehme politische Integrität beweisen würden. Die Podiumsdiskussion über „Geschlecht und Holocaust“, die man Anfang Dezember mit der Gedenkstätte des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück veranstaltete, war dafür ein Beispiel. Man wird den Eindruck nicht los, daß hier im Ideenlabor des Einstein-Forums die Chemie von naturwissenschaftlicher Innovationsfreude und philosophischem Zögern stimmt.
Daß die nicht immer gerade Wege nimmt, dafür spricht auch die erste Publikation des Einstein- Forums, die jetzt erschienen ist. „Vom Nutzen des Vergessen“ heißt sie; doch in den zehn Aufsätzen zum Thema ist weit mehr vom Gegenteil die Rede. Wie anders als über das Gedächtnis läßt sich unser Vergessen einholen, so formulierte Sigrid Weigel, Kulturwissenschaftlerin aus Zürich, das Problem: „Die Rede über das Vergessen ist eigentlich eine paradoxe Rede, weil wir ja nur wissen, daß wir etwas vergessen haben, wenn wir erinnern, daß wir es vergessen haben.“ Die Autoren des Bandes hüten sich denn auch vor einer allzu strengen Definition des Vergessens. Um sich um so intensiver mit seinem Nutzen – und mit seinen Nachteilen – zu beschäftigen.
Den Gefühlshaushalt bringt das Vergessen allemal durcheinander. Unter dem Namen „Alzheimer“ will man es seit ein paar Jahren zur Krankengeschichte domestizieren. Seitdem spukt es bei jeder Schusseligkeit als Schreckgespenst durch unsere Psyche. Die Apologie des Vergessens hingegen war schon für Friedrich Nietzsche Grund für philosophische Überlegungen: „Betrachte die Heerde, die an dir vorüberweidet: sie weiß nicht, was gestern, was heute ist. Dies zu sehen geht dem Menschen hart ein und er fragt wohl einmal das Thier: warum redest du mir nicht von deinem Glücke? Das Thier will auch antworten, das kommt daher, dass ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte – da vergaß es aber auch schon die Antwort und schwieg; so dass der Mensch sich darob verwunderte.“
Schöner war Todessehnsucht nie. Auch das postmoderne Nachdenken sucht die Nähe zu Nietzsches affirmativer Ästhetik des Vergessens, nur härtet sie es weniger gefühlsduselig zu Fakten. Nikolaus Ginelli gibt dazu in seinen Miszellen „Kleine Abwesenheiten“ Auskunft: Beispiele, wie das Vergessen sich dem Erinnern ohne Trauer entzieht.
Doch damit haben die Autoren vom Einstein-Forum wenig am Hut. Das Vergessen, hier und jetzt, ist ihre Sache nicht. Angesiedelt zwischen Philosophie, Psychoanalyse und Politik, bleiben sie der Gedächtnisarbeit und allemal dem praktischen Leben verpflichtet. Auch Hinderk M. Emrich, Neurobiologe, Psychiater und Mitherausgeber des Bandes über den „Nutzen des Vergessens“, hält sich weitgehend ans Thema. Im Zeitalter modernisierter Speichermedien setzt Emrich auf konstruktives Vergessen. Psychotherapeutisch macht das Sinn. Dem Nicht-vergessen-Können geht für Emrich die Depression voraus: „Depressive sind die einzigen Menschen, bei denen Selbstbild und Fremdbild einigermaßen zusammenfallen. Alle anderen Menschengruppen (Gesunde, Neurotiker, Maniker, Schizophrene) leben in ausgeprägten Selbstillusionen.“ Emrich selbst erscheint mit seiner überbordenden neuromechanischen Politbiologie dagegen eher als ausgeprägter Maniac. Zwar hält sein Text alles – irgendwie – zusammen: Was aber wollte er gleich noch sagen?
Sigrid Weigel sieht das Problem aus der kulturpolitischen Perspektive – und sie hat eine Botschaft. Sie warnt davor, aus politischem Kalkül hinter eine Psychoanalyse des Vergessens zurückzufallen. Das Vergessen sei keine Delete- Taste auf dem PC, sondern die Umarbeitung von Unlust in Figuren der Entstellung – Vergessen äußert sich in Deckerinnerungen. Produktiv wird diese Sicht der Dinge in ihrer Umkehrung: in der Frage nämlich, auf welche Weise sich in politischen Gedenkritualen ein Vergessen-Wollen versteckt.
Dafür darf unser begnadetster Nachgeborener als Beispiel herhalten. Helmut Kohls Denkmal für die „Opfer des Krieges und der Gewaltherrschaft“, das alljährlich zum Totensonntag durch die Medien geistert, bleibt das schönste Exempel für die Dreistigkeit deutscher Erinnerungspolitik. Die aufgeblasene Kollwitz-Skulptur „Mutter mit totem Sohn“ in der „Neuen Wache“, Unter den Linden, läßt in der scheinbar unmittelbaren Anschaulichkeit der Pietà einfachste historische Sachverhalte vergessen, denn, so schreibt Weigel dem Bundeskanzler und seinen Adepten ins Stammbuch, „in Auschwitz tötete man die Mutter gleich mit“. Gedächtniskultur als Verdrängungsmaschinerie. Sigrid Weigel beherrscht ihr semioanalytisches Handwerkszeug und holt damit die offiziöse Form deutschen Gedenkens ziemlich souverän vom Sockel.
Am entgegengesetzten Strang des politischen Vergessens zieht die Geste der Generalamnestie, für die die Pariser Althistorikerin Nicole Loraux ein schönes Beispiel aus der Geschichte des antiken Griechenland anführt. Nach einem Jahr Gewaltherrschaft durch die „Dreißig Tyrannen“ bringen die Exilierten und ihre Verbündeten der Polis Athen im Jahr 403 v. u. Z. ihre Demokratie zurück. Mit Archinos betritt die Bühne der Macht ein gemäßigter Demokrat – sagen wir: ein Manfred Stolpe eher denn eine Bärbel Bohley. Sein Anliegen ist weder Gerechtigkeit noch Rache, sondern Politik: die Einigung eines Volkes, das im Jahr der Oligarchie in Opfer, Täter und Mitläufer zerfiel.
Um aus dem zerrissenen Staat eine Nation zu schmieden, greift Archinos zum probaten Mittel der Generalamnestie. So einfach ist das mit dem politischen Vergessen: Man ordnet es an. Auf dem Fundament des Erinnerungsverbots entsteht eine der stabilsten Demokratien der alten Welt. Ihr erstes Opfer aber wird ein ehemaliger Emigrant: Er bricht den Amnestie-Eid durch eine Prozeß-Eingabe – und wird wegen dieses Verstoßes gegen das Vergessen hingerichtet.
Daß das Vergessen sich im Politischen nicht aufhebt, darauf insistiert Gabriel Motzkin von der Hebräischen Universität, Jerusalem, in seiner immanenten Heidegger- Lektüre: „Ich frage mich, was genau geschieht, wenn man einen Verstorbenen langsam vergißt. Was vergißt man zuerst? Ich glaube, daß man am Anfang, wenn man sich in das Haus eines Toten begibt, sich der Ausstrahlung erinnert: Es scheint so, als ob der Tote noch lebendig ist. Man spürt ihn überall. Und nach und nach verschwindet dieses Empfinden; alles, was dann noch bleibt, ist das Bild.“
Manch andere der Perspektiven auf das Vergessen kommen in dem „Caputher Abschlußgespräch“ des Bandes noch zu pointierterer Klarheit. Das spricht für den Willen des Einstein-Forums, den Austausch zwischen Wissenschaftlern auch ins Land zu tragen. Dem Buch sieht man das an. Es ist ein feines Buch. In französischer Broschur, vom Darmstädter Grafik- Professor Hans Puttnies mit einer gewissen Liebe zum Detail gestaltet – auf alterungsbeständigem Papier natürlich. Eine Publikation, die sich selbst dem Vergessen verweigern will. Und die Zwischenrufe zuläßt: mit Luft zwischen den Zeilen und viel Platz für Randnotizen rundherum.
Lesbarkeit und Anschaulichkeit gehören nicht zu den geringsten Qualitäten, die die neue Schriftenreihe im Einstein-Forum auszeichnen. Demnächst soll mit „Wissensbilder“ der zweite Band erscheinen. Es wäre zu hoffen, daß sich die Lektoren für die Schlußredaktion dann ein paar Tage mehr Zeit nehmen. Die nämlich war schludrig – was in schön gemachten Büchern ganz besonders auffällt.
„Vom Nutzen des Vergessens“, herausgegeben von Gary Smith und Hinderk M. Emrich. Akademie Verlag 1996, 296 S., 48 DM.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen