: Obdachlos bei minus 19 Grad
Trotz Eiseskälte bleiben die städtischen Notunterkünfte für Wohnungslose meist leer ■ Von Heike Haarhoff
„Nach einem oder zwei Jahren auf der Straße“, sagt die 37jährige Sabine (Name geändert), „kannst du es nicht mehr ab, in so einer Zwangsgemeinschaft zu leben. Drei Leute oder mehr auf einem Zimmer, die sich nicht kennen – das hält man nur mit Kopfhörer und möglichst fiebrigem Kopf durch. Und dann am besten nur noch durchknallen.“
Weil sie außerdem „das Gefühl hatte“, in den städtischen und karitativen Unterkünften für Obdachlose „zum Beschäftigungsobjekt von Sozialarbeitern degradiert zu werden“, ist Sabine in den Park zurückgezogen. „Aber auch da kennen die Leute keine Scham: Wenn sie dich neugierig anglotzen, während du noch im Schlafsack liegst, ist das, als ob Wildfremde plötzlich durch dein Schlafzimmer trampeln.“ Dennoch „machte“ sie lieber „draußen Platte“. Bis die eisige Kälte mit Nachttemperaturen bis minus 19 Grad vor einigen Tagen auch in Hamburg einsetzte. Wer im Freien übernachtet, droht zu erfrieren.
Mindestens 1200 Menschen leben derzeit in der Hansestadt nach einer Zählung der Sozialbehörde unter Brücken, in Parks und auf der Straße; über die Dunkelziffer ist nur bekannt, daß sie weitaus höher liegen muß. „Niemand“, betont jedoch Sozialsenatorin Helgrit Fischer-Menzel (SPD), „muß in Hamburg im Winter auf der Straße übernachten.“ Denn zwischen November und April erweitert die Stadt ihr ganzjähriges Unterbringungsangebot für obdachlose Menschen (5.000 Plätze in Wohnunterkünften, Hotels und Pensionen) um zusätzliche 260 Schlafmöglichkeiten: in Wohncontainern, der Übernachtungsstätte „Pik As“ sowie auf den Wohnschiffen „Bibby Altona“ und „Bibby Kalmar“ in Neumühlen.
23 Doppelstockbetten in einem riesigen Schlafsaal. Dünne Spanplatten, vielleicht zwei Meter hoch, trennen hier jeweils vier bis sechs Schlafplätze provisorisch vom Rest des Raums ab. Intimität gibt es nur in den Toiletten- und Duschräumen. 46 wohnungslose Menschen sollen hier nächtliche Ruhe finden. Auf Kleiderschränke und Sitzgruppen wurde verzichtet. Die einzige gute Aussicht zwischen Straßenmülleimer in Zimmermitte, abwaschbaren Fußböden und ein paar Aufklebern an den Wänden ist die vereiste Elbe direkt vor den Fenstern des Wohnschiffs.
„Das hier“, erinnert Leiter Dieter Norton, „ist ein Notprogramm.“ Die Wohnschiffe sind die zentrale Anlaufstelle für ganz Hamburg. Jede und jeder hat ein Recht auf Aufnahme – rund um die Uhr. Die Tagesaufenthaltsstätten für Obdachlose und andere niedrigschwellige Einrichtungen vermitteln die Adresse, die Bahnhofsmission hat einen nächtlichen Busshuttle nach Neumühlen eingerichtet. „Junkies aus St. Georg, Leute aus dem Prostituiertenmilieu und sehr viele junge Menschen unter 30 kommen hierher“, sagt Norton. „Viele von ihnen gehörten eigentlich in ein Krankenhaus.“
Außer dem Großraumschlafsaal gibt es auf dem Schiff Zweierkabinen für 80 Menschen. Aber auch hier gilt: Tagsüber müssen die Leute verschwinden; offiziell ab neun Uhr morgens, und zwar mit ihrem gesamten Hab und Gut. Zurückgelassenes Gepäck, heißt es in der strengen Hausordnung, „wird vernichtet“. Wer abends ab 17 Uhr zurückkehrt, bekommt wieder ein Bett zugewiesen.
„Ich wollte ganz bewußt, daß die immer einen anderen Schlafplatz kriegen, damit hier erst gar keine Bunker entstehen, und auch wegen der Hygiene“, erklärt Norton. „Ansonsten“, ist er sich „ganz sicher“, führe das zu schnell zu „Verslumung“. Was ihn dagegen „wirklich wundert“, ist die Tatsache, „daß trotz der eisigen Temperaturen nur 90 unserer 120 Plätze belegt sind“. Im „Pik As“ ist die Auslastung ähnlich gering. „Und Frauen“, sagt Norton, „kommen sowieso nur ganz selten.“ Doch die Hemmschwelle liegt nicht nur im Mangel an geschlechtsspezifischen Angeboten begründet, den Frauen- und Obdachlosenverbände seit Jahren beklagen.
„Viele haben Angst, ihre Anonymität nicht wahren zu können, weil die meisten Unterkünfte die kompletten Namen erfassen wollen“, klagt Manfred Jensen vom Obdachlosenverein Oase. Eine löbliche Ausnahme macht die Christuskirche in Altona, die vier Container für zwölf obdachlose Männer betreut. Um hier zu schlafen, reicht es, den Vornamen zu nennen. Seit Ende November ist die „Belegschaft“ unverändert. Die kleinen Behausungen bleiben auch tagsüber geöffnet. Karl-Heinz, der schon seinen zweiten Winter hier verbringt und hofft, „bald genug Rente zu haben, um eine eigene Wohnung mieten zu können“, verwaltet die Schlüssel in Eigenregie.
„Entweder“, findet er überdies, „sollten die Container ganzjährig geöffnet bleiben oder uns leere Wohnungen oder Büros gegeben werden.“ Aber, klagt Karl-Heinz, „das kann man dem Bürgermeister wohl nicht erklären“. Anstatt bleibende Unterkünfte zu schaffen, zahlt die Stadt lieber horrende Summen für die Unterbringung in Hotels und Pensionen und läßt stadteigene Flüchtlingsunterkünfte, wie jüngst in Altenwerder, abreißen. „6.500 Mark kostet die Containerunterbringung pro Monat für zwölf Leute; bis zu 1.700 Mark dagegen im Hotel pro Person“, rechnet Heinz-Günther Zabel, ehrenamtlicher Betreuer der Christusgemeinde, vor.
Zudem stellt sich das Problem der Versorgung: Ohne eigene Küche sind die Obdachlosen gezwungen, auf die Spenden der Hamburger Tafel zu hoffen, sich in Suppenküchen oder im Zweifel mit schlechter, aber billiger Imbißkost zu ernähren. Das Restaurant „Zum Zinken“ der Jugendhilfe Ottensen, das eigentlich schon im Dezember starten und den Preis der Mahlzeit je nach Einkommen der Gäste richten wollte, „kann frühestens im Sommer öffnen, weil das Haus von Schwamm befallen ist“, bedauert Initiator Paul Pauksch.
Als zweifelhaft gilt auch die Beharrlichkeit, mit der Sozialsenatorin Fischer-Menzel das Winternotprogramm als „ersten Schritt zur Reintegration sozial entwurzelter Menschen“ darstellt. Bei den Bezirksämtern werden die Wohnschiffe nicht als Meldeadresse akzeptiert. „Das Problem ist“, spricht Karl-Heinz aus Erfahrung, „daß du manchmal spontan eine Arbeit angeboten bekommst, die Leute aber einen Rückzieher machen, sobald sie in deinen Papieren lesen, daß du ohne festen Wohnsitz bist.“ Ohne Wohnung keine Arbeit, ohne Arbeit keine Wohnung – „man kann es drehen und wenden wie man will, wenn man das ein paarmal durchgemacht hat, läßt man sich hängen“, sagt der Hamburger. Viele seiner „Kollegen“, die „besonders fertig“ wären, kämen deshalb nicht einmal mehr in die Container. „Wenigstens“, fordert Karl-Heinz und mit ihm das Hamburger Straßenmagazin Hinz&Kunzt, „sollte man für die die U-Bahnschächte öffnen, bevor sie erfrieren.“
Doch die Sozialbehörde bleibt hart. Zur Reintegration gehöre auch soziale Betreuung, die in Bahnhöfen nicht stattfinden könne; zudem sei die Unfallgefahr zu groß. Der gängigen Praxis von Paris und New York kann Fischer-Menzel nichts Positives abgewinnen. Und auch bei den freien Trägern ist die „U-Bahn-Frage“ umstritten. Als „richtige Alternative“ mögen sie weder das Diakonische Werk noch der Verein Oase akzeptieren.
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