: Die nachts Platte machen
■ Mit dem Ortsamtsleiter auf nächtlichem Rundgang bei obdachlosen Bremern
Zum Beispiel der Heilige vom Penny-Markt. Jeder kennt ihn. Der mit dem verfilzten Rauschebart, der Tag für Tag mit dem Besen durchs Viertel zieht, kehrt, harkt, unverdrossen. Wann er gekommen ist – kaum einer kann sich erinnern. Schiffbauer sei er gewesen, sagt man. Immer mal wieder sieht man ihn Schiffchen schnitzen. Meistens unwirsch, will er nichts mit der Welt und den Menschen zu tun haben. Und doch: Er hat seinen Platz. Den hat er sich zäh erkehrt und erharkt.
Freitag abend, die Geschäfte haben geschlossen. Die bittere Kälte hat die Einkaufenden an den Abendbrottisch und vor den Fern- seher getrieben. Und er wischt sein Wohnzimmer, das sein Schlafzimmer ist und seine Schatzkammer. Ein Verschlag, direkt neben dem Eingang des Supermarktes. Ein Ort, sein Ort. Eine Wohnung hatten sie ihm angeboten. Wollte er nicht, sagt man. Der Winkel: vom Boden bis zur Decke ein Stapel gefüllter Plastiktüten. Seine Schätze. Heute ist er gut drauf. Nö, sagt er, und stützt sich auf seinen Wischmob. Die Iso-Matte braucht er nicht. Aber den Schlafsack, wo ihm doch irgendeiner die Decke geklaut hat. Und er lächelt. Selten gesehen bei ihm, sagt man.
Zum Beispiel der im Bischofsnadel-Tunnel. Direkt unter dem Plakat mit Jürgen Klinsmann drauf, „Keine Macht den Drogen – eine Initiative mit Unterstützung von Bundeskanzler Helmut Kohl“, da hat er seine Bastmatte ausgerollt, eine dünne Iso-Matte drüber, ein Schlafsack, eine Decke, die Füße stecken in dicken Wollsocken.
Schon den zweiten Winter verbringt er hier, jede Nacht. Seit zwei Jahren ist er auf Platte. „Seit der Scheidung“, sagt er. „Die Wohnung hat sie behalten.“ Mit den Notunterkünften will er nichts zu tun haben, mit den anderen auf Platte auch nicht. „Wenn die erste Flasche Bier aufgemacht wird, bin ich sofort weg. Ich trinke keinen Tropfen Alkohol.“ Ein großer Vorteil bei diesen Temperaturen. Schließlich hat der Winter erst begonnen. „Nächste Woche wird es noch kälter.“ Hat er in seinem kleinen Radio gehört, Hansawelle.
Bahnhof wäre schon wärmer. Am Gleis gibt es ein Wartehäuschen. Nach dem Waschen und Rasieren ist er da mal hingegangen, sagt er. Aber da haben ihn zwei vom Wachdienst verfolgt. Der Bahnhof – keine Chance. Dann lieber wieder der Tunnel an der Bischofsnadel. Sonntag nacht kriegt er wieder Besuch. Da kommt der Mann, der den Tunnel saubermacht. Dem hilft er immer, das Wasser abzuziehen. „Sonst wird es so naß in meiner Ecke.“ Und lacht, fragt: „Und wo wollt ihr jetzt hinmachen?“ Preisfrage: Wer sieht jetzt mehr wie ein Obdachloser aus? Der Obdachlose, der Ortsamtsleiter oder der Journalist?
Zum Beispiel der auf der Wallbrücke. In sich vergraben kauert er da, an das Brückengeländer gelehnt. In Decken gehüllt, mehrere Jacken hat er übereinandergezogen. Auf seinen Knien schaukelt eine Zigarrenschachtel. Paar kleine Münzen drin. Mühsam hebt er den Kopf. Langsam, ganz langsam. Die Pupillen eng, das Reden wird schwer. So schwer, die Handschuhe auszuziehen, die Zigarette zwischen die gelben Finger zu stecken und anzuzünden. „Die Kälte kriecht einem doch in die Knochen.“
Ende zwanzig, Anfang dreißig ist er vielleicht. „Neee“, sagt er mühsam und gedehnt. „Jakobushaus will ich nicht. Die ganzen Ziehereien und so.“ Erzählen alle, sagt er. Daß da geklaut wird. Selbst war er noch nicht da. Ja, aber hier draußen riskiert er sein Leben. „Das ist halt Risiko.“ Er schläft lieber in einem der Hauseingänge am Wall. „Ist dann doch wärmer als hier.“ Legt die angebrannte Zigarette auf einem Mauervorsprung ab, um die Decken hochzuziehen. Langsam, ganz langsam.
Zum Beispiel der auf der Roste vor McDonald's. Eine Dame beugt sich über ihn. Er schläft. Ratlos blickt die Dame unter der Pelzmütze um sich, rafft den dicken Nerz, geht in die Hocke und streichelt den Mann in sanfter Unsicherheit über die verwitterte Wange. „Hallo!“ Bis er aufwacht. Wenigstens ein bissel.
Paul. Ein halbes Leben auf der Straße. 21 Jahre ohne Obdach, ein Überlebensprofi. Bringt kaum ein Wort heraus. Aber das: 21 Jahre. Schläft unter einem Stapel Decken, schläft auf einem Bündel Kissen. Nimmt den Schlafsack gerne und ohne viele Worte. Als Kopfkissen, erst mal. Wer weiß, wozu der noch gut sein kann. Wird dann wieder mürrisch, will weiterschlafen. Macht die Augen zu. J.G.
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