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Die „nordische Fraktion“ gibt es nicht

Zwei Jahre in der EU: Zufriedene FinnInnen, SchwedInnen, die am liebsten wieder austreten würden und ein Norwegen, das sich in seinem Nichtbeitritt bestätigt fühlt. EU-GegnerInnen fordern neue Volksabstimmung  ■ Aus Göteborg Reinhard Wolff

Die Volksbewegung „Nein zur EU“ hat neue Broschüren und Plakate gedruckt, eine weitere Auflage der alten „NEJ!“-Buttons bestellt und bereitet sich auf einen Kampf vor, der eigentlich schon aufgegeben war. Zum Zweijahrestag des schwedischen EU-Beitritts lautet ihre Forderung: Heraus aus der EU.

Lennart Gustaffson, Sozialdemokrat und Sekretär der „Nein“- Bewegung in Göteborg, baut wieder regelmäßig an zentralen Plätzen in Schwedens zweitgrößter Stadt seinen transportablen Stand auf. Über das Echo seiner MitbürgerInnen kann er sich wahrlich nicht beklagen: „Die häufigste Reaktion, die wir erfahren, ist: Ihr habt recht gehabt, alles ist so schlecht geworden, wie ihr es vorausgesagt hattet.“ Und weiter bekommt er zu hören: „Nichts von dem, was den Wählern versprochen wurde, ist eingetroffen. Die Schweden wurden schlicht und einfach nach Strich und Faden verarscht.“

52,2 Prozent der SchwedInnen hatten das Land vor zwei Jahren in die EU gestimmt. Heute wollen über 60 Prozent es am liebsten wieder draußen haben. Die hierfür angeführten Gründe gehen weit auseinander: Von der nach wie vor sehr bescheidenen Alkoholration, die man trotz EU über die Grenze einführen kann, über die nicht gesunkene Arbeitslosenrate bis zu den tagtäglich zu lesenden neuen Skandalgeschichten über Verschwendung von und Betrügereien mit EU-Geldern reichen die Argumente.

„Warum eigentlich teuer bezahlen, wenn wirtschaftlich nichts besser geworden ist?“ Eine Frage, auf die nicht nur Lennart Gustafsson keine befriedigende Antwort von seinen ParteigenossInnen auf den Regierungssesseln in Stockholm bekommt.

Für „unzulässig“ hält eine solche Argumentation dagegen Linda Steneberg, die Repräsentantin der EU-Kommission in Schweden. Die EU-Kritiker vermischten Äpfel und Birnen. Eigentlich sei man auf Stockholm sauer, richte den Zorn aber gen Brüssel: „Der EU-Widerstand wird von der schlechten Wirtschaftslage angeheizt. Arbeitslosigkeit, Einschnitte ins soziale Netz – alles wird bewußt oder unbewußt mit der EU in Zusammenhang gebracht“, glaubt sie. „Dabei wären die ganzen Sozialkürzungen auch ohne die EU gekommen. Aber die Auslandsinvestitionen sind beispielsweise gestiegen, und davon wird Schweden langfristig profitieren.“

Ähnlich wie in Österreich bezahlt die Regierung in Schweden mit der massiven Anti-EU-Opposition jetzt den Preis für ihre Taktik, sich ein „Ja“ bei der EU-Volksabstimmung zu sichern. So wurden weit übertriebene Versprechungen gemacht über angebliche Vorteile auf wirtschaftlichem Sektor. Daneben wurden all die zusätzlichen Kosten, die Brüssel für das Land bedeutet, kurzerhand „vergessen“.

Nichts gelernt hatte man dabei aus ähnlich schlechten Erfahrungen, die schon 20 Jahre vorher die Regierungen in London und Kopenhagen gemacht hatten, die mit solcherart Methoden die eigentlich widerstrebenden DänInnen und EngländerInnen in die EU geschoben hatten. Wobei mittlerweile auch EU-BefürworterInnen kaum noch bestreiten, daß ohne diese falschen Versprechungen Schweden es mit einem „Nein!“ den norwegischen NachbarInnen gleichgetan hätte.

Dort im Nachbarland ist ebenfalls so gut wie nichts von dem in Erfüllung gegangen, was die Regierung in Oslo vorausgesagt hatte: Sie hatte wahre Schauergeschichten ausgemalt über die Folgen eines EU-„Neins“. Norwegens Wirtschaft hat sich vielmehr in den letzten zwei Jahren auch ohne EU- Mitgliedschaft ganz nach oben auf der Liste der glänzend funktionierenden europäischen Volkswirtschaften geschoben.

Das Land hat keine Probleme mit Arbeitslosenzahlen, sondern eher mit zu heiß kochender Konjunktur und zu starker Währung. Die Neujahrsansprache von Ministerpräsident Torbjörn Jagland brachte den NorwegerInnen eine Botschaft über den Äther, die ansonsten im europäischen Luftraum wohl nicht zu hören gewesen sein dürfte: Das Land habe eigentlich nur ein Problem: Wohin mit dem finanziellen Überfluß.

Weder Kapital noch Industriebetriebe oder Arbeitsplätze flüchteten sich nach dem „Nein!“ aus dem „isolierten“ Land in die wärmende EU-Gemeinschaft. Mit den Druckmitteln Fisch und Öl konnte sich Norwegen auch gegen alle möglicherweise drohenden Handelsnachteile wehren. Und selbst in der Schengen-Gemeinschaft wird man auch ohne EU-Mitgliedschaft dabei sein.

Die EU-Skepsis ist angesichts der Nachrichten über den – mit kräftiger Schadenfreude verfolgten – Frust der schwedischen NachbarInnen noch gestiegen, und jedenfalls ein ganzes Stück ins nächste Jahrtausend hinein ist ein neuer Anlauf gen Brüssel kein Thema.

Hatte das „Nein“ für Norwegens Wirtschaft keine Nachteile und für Schweden zumindest keine kurzfristigen Vorteile, so sind solche Erfahrungen mitnichten für ganz Skandinavien zu verallgemeinern – wie das Beispiel Finnland zeigt. Zwar müssen auch hier wirtschaftliche Spuren der EU-Mitgliedschaft mit der Lupe gesucht werden. Der Industrie geht es nicht besser, der Land- und Forstwirtschaft – dank für den Übergang beibehaltener, eigentlich „systemfremder“ Subventionen – aber auch nicht schlechter. Die Arbeitslosenrate liegt mit 18 Prozent unverändert rekordhoch, und die EU-Auswirkungen sind im privaten Geldbeutel der meisten FinnInnen nicht zu spüren.

Trotzdem herrscht eitel Freude über die EU-Mitgliedschaft – genauer gesagt: herrschte bis vor wenigen Wochen. Die Meinungsumfragen tendieren langsam allerdings mehr gegen Unzufriedenheit.

Finnland spiele unter den Neuankömmlingen in einer „eigenen Liga“, schrieb kürzlich die Financial Times. Was augenscheinlich tatsächlich der Fall zu sein scheint. Die Wahlen zum EU-Parlament, bei der vor wenigen Wochen EU- SkeptikerInnen kräftigen Rückenwind bekamen, lassen jedoch Vermutungen wachsen, daß bald nur noch die Regierung in Helsinki, nicht aber die Bevölkerungsmehrheit in dieser Liga heimisch bleiben werden. Daß die EU-Stimmung zumindest bislang so positiv blieb, hat wesentlich damit zu tun, daß das Land – obwohl auch hier kräftig mit uneinlösbaren wirtschaftlichen Versprechungen Stimmen geködert wurden – mehr aus politischen als ökonomischen Gründen die EU-Mitgliedschaft suchte.

Denn für die FinnInnen brachte die Auflösung des Imperiums im Osten eine Identitätskrise mit sich. Bis dahin hatten sie sich trotz des langen sowjetischen Schattens im Nachkriegseuropa in ihrer allseitig respektierten Neutralitätsrolle bis Ende der achtziger Jahre recht sicher gefühlt. Mit dem Verwischen des west-östlichen Feindbilds verschwand aber auch der tatsächliche oder vermeintliche Schutzschild der beiden Supermächte über dem kleinen Grenzland. Die EU-Mitgliedschaft versprach eine neue Identifikation, eine neue – und von der „Ja“-Kampagne fleißig ausgeschmückte – Rolle als „vollwertige“ EuropäerInnen.

Eine Entwicklung, die auch dazu beigetragen hat, daß von der eigentlich erwarteten „nordischen Fraktion“ in Brüssel bislang nicht viel zu spüren war. Selbst bei skandinavischen Spezialfragen – wie etwa der Alkoholeinfuhr und der EU-Öffentlichkeit – sah sich Schweden recht schnell alleingelassen oder nur von Dänemark unterstützt. Helsinki hat sich auf eine deutlich abweichende Kompromißlinie eingestellt und fährt einen Kurs schnellstmöglicher Anpassung an den Geleitzeug der „alten“ EU-Länder. Dazu paßt, daß man trotz katastrophaler Wirtschaftsdaten von Anfang an in der Europäischen Währungsunion dabei sein will und die Finnmark deshalb kürzlich wieder ans europäische Währungssystem angebunden hat.

Für Schweden sind dagegen sowohl die Währungsunion als auch mögliche weitere Integrationsschritte selbst in den Reihen der einst glühendsten EU-BefürworterInnen kein Thema mehr. Schweden sei nicht EU-Mitglied geworden, weil man Deutschland brauchte, brachte es vor einigen Tagen die EU-freundliche konservative Tageszeitung Svenska Dagbladet auf den Punkt: „Wir wurden Mitglied, weil wir Europa brauchen. Und bei der Währungsunion und weiteren Integrationsschritten handelt es sich um eine Verstärkung der Allianz zwischen Deutschland und Frankreich.“

Glaubten Finnland und Südeuropa, sich zwischen Vogesen und Schwarzwald ansiedeln zu können oder zu müssen, sei dies ihre Sache: Schweden solle von vorneherein auf diese Art „unmöglicher europäischer Kontinentalverschiebung“ verzichten.

Für EU-GegnerInnen wie Lennart Gustafsson ist diese Integrationsskepsis, die Schwedens EU-Politik stärker als erwartet prägt und die englisch-dänische „Bremserfraktion“ stärkt, zwar wenig Trost, aber immerhin Beweis, daß auch die „Ja“-Seite langsam auf dem Weg einer realistischeren EU-Einschätzung ist. „Und die Skepsis steigt überall“, wedelt er mit einem Artikel aus der Donnerstagsausgabe der Stockholmer Tageszeitung Dagens Nyheter. Demzufolge ist europaweit die Skepsisrate der Bevölkerung gegen Brüssel auf über 50 Prozent gestiegen. Mit einer Rekordnotierung für die Region Mittelschweden, wo nur noch 14 Prozent in der EU bleiben wollen.

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