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Mit doppeltem Boden

■ Kohl spricht mit Jelzin über die Nato-Osterweiterung

Der Krankenbesuch Kohls bei Jelzin hatte auch politische Aspekte. Strittige Fragen lassen sich in einer heimeligen Atmosphäre leichter besprechen. Die Fähigkeit, in kritischen Konstellationen Freundschaften zu knüpfen und das ganze Gewicht seines persönlichen Charmes einsetzen zu können, gehört zu Kohls Qualitäten. Er hat sie erfolgreich bereits im Prozeß der deutschen Vereinigung eingesetzt – mit Gorbatschow, Mitterrand und de Maizière. Kohl läßt persönliche Gefühle in öffentliche symbolische Gesten übergehen und umgekehrt – und agiert dabei doch politisch.

Im Kamingespräch zwischen führenden Freunden lassen sich gefährdete Kooperationen leichter ins Lot bringen. Die Partner müssen offener scheinen, weil sie dem anderen guten Willen öffentlich zu unterstellen haben. Freundschaftliche Gespräche setzen damit ein hohes psychologisches Raffinement voraus. Sie zeigen, daß die Sache heikel ist.

Das gilt gerade für die Osterweiterung der Nato. Kohl war bereit, die „berechtigten Sicherheitsinteressen Rußlands“ zu berücksichtigen. Dabei werden heute außerhalb Rußlands nur wenige unterstellen, die Nato sei ein Instrument militärischer Aggression gegen Rußland. Wenn Polen, die Tschechische Republik und Ungarn Mitglied werden wollen, dann nicht, um Krieg gegen Rußland zu führen. Die baltischen Regierungen fürchten sich vor den imperialen Potentialen, die sich in Rußland durchsetzen könnten.

Die nichtdemokratische Opposition nutzt sowjetische Nostalgien. Jelzin hat sie durch seinen Widerstand gegen die Nato-Erweiterung bislang teilweise eingebunden. Die Beruhigung, man wolle Rußlands Sicherheit berücksichtigen, ist also vor allem an die Medien in Rußland gerichtet: Es gebe auch für national gesinnte Russen keinen Grund, nationalistisch zu wählen und damit die Region zu destabilisieren.

Diese schwierige Konstellation als Freundschaft öffentlich nachzuspielen hat eine bewundernswerte Doppelbödigkeit. Sie verbirgt, was nicht offen gesagt werden kann. Politische Freundschaften sind damit nicht weniger komplex als unpolitische. Den Medienpreis, den Jelzin im April in Baden-Baden entgegennehmen soll, hat er verdient. Erhard Stölting

Bericht Seite 2

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