: Respektloses Arbeitertheater im Beamtenghetto
■ Ein Dokumentationsheft erinnert an das SPD-Volkshaus in Charlottenburg
Übertriebene Ehrfurcht vor Werken großer Dramatiker war nicht ihre Stärke: Wenn die Laienschauspieler der Arbeiter-Theatervereine ihre volkstümlichen Inszenierungen auf der Bühne des Charlottenburger Volkshauses präsentierten, wurde bisweilen mehr improvisiert als brilliert. So mancher kunstsinnige SPD-Genosse beschwerte sich in Leserbriefen bitter über die „Dilettanten, die schon manchem erschütternden Drama zu großem Lacherfolg verholfen haben...“. Doch hochkulturelle Spitzenleistungen sollten in dem 1902 erbauten Domizil der Arbeiterbewegung auch nicht erbracht werden. Mit Bildungsvorträgen über Biologie und Religion, Konzerten und deftigen Bühnenstücken mauserte es sich schnell zum Brennpunkt der Charlottenburger Arbeiterkultur. August Bebel redete dort vor 1.400 Menschen über „Deutschlands Entwicklung im 19. Jahrhundert“.
Alle auffindbaren Anekdoten und Aktennotizen über die Begegnungsstätte hat nun der Historiker Herrmann-Josef Fohsel im Auftrag der Bezirksvollversammlung Charlottenburg in einer ab sofort im Heimatmuseum Charlottenburg erhältlichen Broschüre zusammengefaßt. „Ich mußte mich fast ausschließlich auf Erinnerungsliteratur und Zeitungsnotizen stützen“, so Fohsel über die kärgliche Quellenlage. Wissenschaftliche Literatur war nicht greifbar, auch aus den SPD- und PDS-Archiven konnte er nichts zutage fördern. Für den Historiker keine große Überraschung, war das Haus in der heutigen Loschmidtstraße 6-8 doch eher eine Exklave der Roten im damaligen Beamtenghetto Charlottenburg.
Unter der Nazidiktatur wandelte der SA-Mob das Kulturzentrum in eine Folterstätte um. Über die Gewaltexzesse der NS-Schergen bis November 1933 hat Fohsel anders als zu den friedvolleren Zeiten ergiebiges Material gefunden. Heute befindet sich an dem geschichtsträchtigen Ort ein Verkehrserziehungsplatz. Nichts erinnert mehr an das Volkshaus und das Gesicht der damaligen Rosinenstraße. Doch noch leben Zeitzeugen, Historiker Fohsel hat mit ihnen gesprochen, und einer erinnert sich noch an Kanonen in der Straße während der Novemberrevolution. Klemens Vogel
Heimatmuseum, Tel. 3430-3201
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