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Europa beginnt in Afrika

In Ceuta und Melilla, den spanischen Enklaven an der Küste Nordafrikas, versucht Madrid Flüchtlinge am Sprung nach Europa zu hindern  ■ Von Thomas Schmid

In Melilla ist man stolz auf die Geschichte. Seit 500 Jahren gehört die Stadt an der marokkanischen Küste ununterbrochen zu Spanien. Jahrhunderte bevor sich die europäischen Kolonialmächte den afrikanischen Kontinent aufteilten, war Melilla Territorium der spanischen Krone. Das ist das Hauptargument der Spanier gegenüber den Marokkanern, die Anspruch auf die zwölf Quadratkilometer große Enklave in ihrem Land erheben. Nein, Melilla ist spanisch, und wer es nicht glauben mag, wird spätestens am Hafen der Stadt eines Besseren belehrt. Dort begrüßt ein steinerner Herr den Ankömmling aus dem andalusischen Malaga, der nach sieben Stunden Schiffahrt endlich wieder festen Boden unter sich hat: Francisco Franco Bahamonde. In ganz Spanien wurden Hunderte von Statuen des Diktators gestürzt, zertrümmert oder nächtens abtransportiert – Melilla ist die einzige Stadt, in der der Caudillo und Generalisimo, der dem Land 36 Jahre lang seine Politik diktierte, die Demontage überlebt hat.

„Melilla, la adelantada“ – „Melilla, die vorzeitige“, so ein Ehrentitel der Stadt. Am 18. Juli 1936 putschten die Generäle gegen die spanische Republik. Weil ein Konfident die Stadtregierung von Melilla vom bevorstehenden Coup unterrichtete, schlugen die Militärs hier schon am 17. Juli los. Eine Gedenktafel am Gebäude der Guardia civil erinnert daran. Dort heißt es auch, daß Francos Bewegung 1939 mit der „Entwaffnung der Roten Armee“ – gemeint sind die militärischen Verbände des legalen republikanischen Spaniens – ihr Ziel erreicht habe. Von den Hunderttausenden Toten, die der von Putschisten entfesselte dreijährige Bürgerkrieg gekostet hat, ist nicht die Rede.

Wenn es um Traditionspflege geht, ist Melilla also gewiß die spanischste Stadt ganz Spaniens. Doch im wirklichen Leben sieht es anders aus. Da mischt sich Europa mit Afrika: Es gibt Wein- und Teestuben, Männer mit Hosen und Männer in langen Gewändern, Frauen in Mini und Frauen mit knöchellangen Kleidern, es wird spanisch gesprochen und tamazight, die Sprache der nordafrikanischen Berber. Ein Drittel der Bevölkerung sind Muslime (seit 1986 erst mit spanischem Paß), und in den acht Moscheen der Stadt beenden die Imame jede Freitagspredigt mit dem Wunsch, Allah möge dem König von Marokko, Hassan II., Gesundheit und ein langes Leben bescheren.

Charlie: In Liberia war es noch schlimmer

Und seit einigen Jahren gibt es nun auch noch die Schwarzen. Zur Zeit sind es 268 Männer und zwei Frauen aus Nigeria, Liberia, Zaire, Ruanda, Mali, Kamerun und vielen weiteren Staaten. Strandgut von Krieg, Terror und Elend. Im Fußballstadion der Stadt haben sie sich zwischen Tribüne und Außenmauer niedergelassen. Wer in den beiden großen Militärzelten nicht untergekommen ist, schläft im Freien. Nachts wird es empfindlich kalt, und mit halbvollem Magen friert man doppelt so schnell.

Charlie, der 22jährige Lastwagenfahrer aus Liberia, hat sich aus Pappe und Holzprügeln einen Windschutz gebaut. In Monrovia, der Hauptstadt seines Landes, sei es schlimmer, sagt er, „da gibt es keinen Strom, kein Wasser, nur Gewalt.“ Seit sechs Jahren tobt in Liberia der Krieg. Vor drei Jahren hat sich Charlie auf ein Schiff des Roten Kreuzes geflüchtet. In Guinea wurde er an Land gesetzt. Versteckt in einem Frachter, gelangte er in die marokkanische Hafenstadt Casablanca und schlug sich von dort quer durchs Land in die spanische Enklave durch. Seit vier Monaten sitzt er nun hier fest.

René, Psychologiestudent aus Zaire, ist scharf auf Nachrichten über den Krieg, der im Osten seines Landes ausgebrochen ist. Auch er ist als schwarzer Passagier nach Marokko gekommen. Drei Wochen hielt er sich auf einem Frachtschiff zwischen Kisten versteckt. Im Hafen von Casablanca wurde er entdeckt. Aber man ließ ihn laufen. Seit drei Monaten wartet er nun in Melilla auf die Überfahrt nach Europa.

Michel: Die ganze Familie mußte aus Mali fliehen

Michel kommt aus Mali. Sein Vater wird wegen Zusammenarbeit mit den Tuareg-Rebellen gesucht, die sich mit der Regierungsarmee immer wieder Scharmützel liefern. Die ganze Familie mußte fliehen. Acht Monate lang hat sich der Analphabet, der sein Französisch im Umgang mit Touristen gelernt hat, durch die Wüsten Malis, Algeriens und Marokkos geschlagen, bis er vor vier Wochen im afrikanischen Spanien ankam.

Die Geschichten von Charlie, René und Michel stehen stellvertretend für 267 weitere Geschichten. Sie mögen stimmen oder auch nicht. „Viele machen falsche Angaben, behaupten, aus einem Land zu kommen, wo Krieg herrscht“, sagt José Alonso, Präsident der Menschenrechtskommission von Melilla, „in der Annahme, sie kämen dann schneller nach Europa hinüber.“ Der Arbeitsrechtler kümmert sich um die juristischen Belange der Gestrandeten.

Kaum einer der Flüchtlinge, die sich quer durch den Kontinent durchgeschlagen haben, beantragt förmlich politisches Asyl. Kaum einer kann sich ausweisen. Mag sein, daß einige Hals über Kopf fliehen mußten und keine Zeit hatten, ihre Papiere zu suchen, oder nie welche besaßen. Doch wer illegal so viele Grenzen überquert – und die algerisch-marokkanische ist seit zwei Jahren offiziell geschlossen – tut allemal gut daran, keine Dokumente mit sich zu führen. Die Gefahr, von irgendeinem afrikanischen Staat ins Heimatland abgeschoben zu werden, wäre zu groß.

„Sobald sich die Flüchtlinge in Melilla bei den Behörden melden, erhalten sie einen Ausweisungsbefehl“, sagt José Alonso, „doch der kann nicht vollstreckt werden.“ Denn Marokko hat sich zwar 1992 vertraglich verpflichtet, illegale Einwanderer zurückzunehmen. Die marokkanischen Behörden aber stellen sich taub und weigern sich anzuerkennen, daß die Flüchtlinge über marokkanisches Territorium nach Melilla gelangt sind. „Als ob die vom Himmel gefallen wären“, schlußfolgert der Menschenrechtler.

„Wir hatten ein Problem“, verkündete der spanische Ministerpräsident José Aznar im Juni, einen Monat nach seinem Regierungsantritt, „und wir haben es gelöst.“ Die Lösung – das war die Abschiebung von 103 Schwarzafrikanern nach Schwarzafrika, zum großen Teil in Länder, aus denen sie gar nicht stammten. Guinea- Bissau, der drittärmste Staat der Erde, hatte sich bereit erklärt, 51 Flüchtlinge aufzunehmen – wieviel sich Spanien die makabre Übereinkunft kosten ließ, weiß die Öffentlichkeit bis heute nicht. Bekannt wurde hingegen, daß Guinea dann den Fremden für den Fall, daß sie in ihre Herkunftsländer zurückkehrten, 2.000 Dollar anbot. 28 Flüchtlinge willigten ein, 22 schlugen die Offerte aus und wurden deshalb in ein Militärgefängnis gesteckt, einer wurde von einem Polizisten erschossen. Um die Abschiebung flott über die Bühne zu kriegen, hatten die Spanier das Trinkwasser der Flüchtlinge heimlich mit Haloperidol versetzt, einem Sedativum, das sonst bei schweren Depressionen verabreicht wird. Die spanische Öffentlichkeit war empört.

Einen weiteren Skandal will der neue Ministerpräsident nicht, und so bleibt der Regierung nichts anderes übrig, als die ungebetenen Gäste – inzwischen sind es dreimal so viele wie vor Aznars angeblicher Lösung des Problems – nach Europa zu lassen. Wer eine Organisation oder Familie findet, die für ihn bürgt, erhält ein Dokument, das ihm zum Aufenthalt für ein Jahr berechtigt, allerdings nur in Spanien, nicht in andern Ländern der Europäischen Union. Auf der Iberischen Halbinsel gibt es inzwischen eine Reihe von Organisationen, die sich um die Vermittlung von Flüchtlingen bemühen, und so ist es für die meisten von ihnen vermutlich nur eine Frage der Zeit, von elenden Wochen und Monaten des Wartens, bis sie das Schiff nach Malaga besteigen dürfen.

Mohamed: Wir Algerier werden im Stich gelassen

Mehr Schwierigkeiten als die Schwarzafrikaner haben die 48 Algerier, die zum Teil seit über einem Jahr in Melilla warten und nach dem Abschiebeskandal vom Juni in einem Haus der Gemeinde untergekommen sind. Dort herrscht eine Frustration, die jederzeit in Aggression umzuschlagen droht. „Schreiben Sie bitte“, diktiert Mohamed F. böse und langsam Wort für Wort und schaut im Notizblock des Reporters nach, ob auch alles so notiert wird, „wir Algerier fühlen uns von den spanischen Behörden vollständig im Stich gelassen. Punkt. Uns läßt man hier versauern, und Sie erhalten noch Geld für Ihre Reportage – nein, von mir werden Sie kein Wort erfahren.“ Viele, die sich als Algerier ausgeben, meinen die spanischen Behörden, seien Marokkaner, und die habe Marokko gefälligst zurückzunehmen. Überdies würden die Algerier von Organisationen und Familien eben seltener angefordert.

Nun sucht Spaniens Regierung also eine neue Lösung. Der Stacheldraht, der wegen einer Cholera-Epidemie in Marokko 1971 auf der spanischen Seite der Grenze verlegt wurde und an vielen Stellen zu Boden getreten ist, wird erneuert. Und es werden Videokameras installiert. Auf der Straße, die längs der Genze verläuft, patrouillieren nun nicht mehr nur Polizisten der Guardia civil, sondern auch Soldaten der Armee.

250 Kilometer westlich von Melilla, da, wo nur vierzehn Kilometer Europa von Afrika trennen, just gegenüber dem Felsen von Gibraltar, liegt die zweite spanische Enklave an der marokkanischen Küste: Ceuta. Hier wird zur Zeit mit Hilfsgeldern der Europäischen Union – schließlich geht es um die Südgrenze Europas – in Höhe von knapp vier Milliarden Mark entlang der acht Kilometer langen Grenze zu Marokko quer durch die Gebirgslandschaft eine Straße gebaut. „Längs dieser Trasse, die im nächsten Sommer stehen wird“, gibt Roberto Franca, Sprecher der Madrider Regierung in Ceuta unumwunden zu, „wird ein Stacheldraht mit Sensoren, Infrarotkameras und Alarmsystemen errichtet – inklusive Lautsprecheranlagen zur Einschüchterung fremder Eindringlinge.“

Eine Besichtigung vor Ort verhindert die Guardia civil. Schließlich handelt es sich um eine Angelegenheit der „inneren Sicherheit“. Wie viele Kritiker der Abschottung Europas spricht auch José Luis Pizarro von der „Mauer von Ceuta“. Der Rechtsanwalt, der im „Spanischen Hilfskomitee für Flüchtlinge“ (CEAR) arbeitet, glaubt nicht, daß das Problem mit Mauern und Stacheldraht zu lösen ist – „sowenig wie in Berlin“.

460 afrikanische Flüchtlinge befinden sich zur Zeit in Ceuta in der Warteschleife. Sie sind im ehemaligen Jugendcamp Calamocarro, fünf Kilometer außerhalb des Stadtzentrums, in elf Militärzelten untergebracht. Und fast täglich sickern Neuankömmlinge in die Enklave ein. Marokkanische Helfer zeigen ihnen den Weg und kassieren dafür in der Regel hundert Dollar, wie Leon Duquene versichert, ein Flüchtling aus Ruanda, der aufgrund seiner exzellenten Spanischkenntnisse vom Roten Kreuz als Volontär beschäftigt wird. Wie die marokkanischen Grenzer nicht nur zu- oder wegschauen, sondern mitunter auch aktiv mithelfen, hat der spanische Fernsehsender „Antena 3“ jüngst auf einem Videoband festgehalten.

Doch die Zahl der Flüchtlinge in Calamocarro bleibt in etwa konstant. Denn wöchentlich setzt im Durchschnitt ein Dutzend, ausgestattet mit den notwendigen Papieren, auf die andere Seite der Meeresenge über. Viele haben den Schritt in die Freiheit Padre Bejar zu verdanken. Der 65jährige Pfarrer hat sich schon um die Flüchtlinge gekümmert, als das Rote Kreuz und CEAR sie noch kaum wahrgenommen hatten. Über katholische Gemeinden in Andalusien vermittelt er ihnen Familien, die bereit sind, sie aufzunehmen oder für sie zu bürgen. Die Dankesbriefe, die ihm Afrikaner aus Spanien geschrieben haben, füllen inzwischen einen dicken Ordner.

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