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Einmal im Jahr ein Gebinde?

In der „Heil- und Pflegeanstalt Pirna-Sonnenstein“ brachten die Nazis etwa 15.000 Behinderte um. Was jetzt aus dem Gelände werden soll, ist umstritten  ■ Von Detlef Krell

Nein, widerspricht Gisela Häußler, die Vergangenheit dieses Ortes sei ihr Problem nicht. „Damit müssen wir leben.“ Leben mit dem „Euthanasie“-Mord an mindestens 15.000 behinderten Menschen. Leben in den Gebäuden der nationalsozialistischen Vernichtungsanstalt Pirna-Sonnenstein. Ein halbes Jahrhundert danach. Gisela Häußlers erwachsene Tochter wird hier arbeiten. Ihr zweites Zuhause finden. „Für sie wird wichtiger sein, welche Betreuung sie erhält“, kommentiert die Mutter und Sprecherin des Fördervereins der Behindertenwerkstatt das Interesse der „Betroffenen“.

Ute Häußler, die Tochter, sitzt im Rollstuhl an ihrer Werkbank. Die junge Frau montiert winzige Kohlebürsten in das Schalterteil für eine Schlagbohrmaschine. Sie scheint sich wohlzufühlen neben den anderen Frauen und Männern, die hier am Großauftrag des Bosch-Werkes arbeiten. Die AWO-Pirnaer Werkstätten für Behinderte beschäftigen 100 Leute. Ein mittelständisches Unternehmen, das der regionalen Fahrzeug- und Elektroindustrie, der Kommune, der Sparkasse zuarbeitet. Geschäftsführer Martin Wallmann kann zufrieden sein: „Wir sind gut ausgelastet.“

Nicht die Auftragslage bereitet ihm Sorgen. Es ist der Standort, der umstritten ist. Die Werkstätten sind in einem zwar abgewohnten, aber vorzüglich gelegenen Haus untergebracht: Hoch über der Stadt Pirna, dem „Tor zur Sächsischen Schweiz“, am Rande eines stillen Schloßparkes mit alten Bäumen. Doch es gibt dringende Gründe, umzuziehen. Das Gelände ist zum Teil verkauft, zum Teil verpachtet an die Münchener Projektentwicklungsgesellschaft Communitas. Und: Im Dritten Reich wurde in der „Heil- und Pflegeanstalt Pirna-Sonnenstein“ sogenanntes „unwertes Leben“ routinemäßig vernichtet: Behinderte und psychisch Kranke, Alkoholiker und angeblich „Asoziale“. Was aus den historischen Gebäuden werden soll, ist umstritten: Eine Gedenkstätte fordern die einen, gemeinnützige Nutzung die anderen. Auf finanzkräftige Investoren setzen Dritte.

Produzieren zwischen den Besuchergruppen

Das sächsische Kabinett hat schließlich ein Machtwort gesprochen, das die Ungewißheit beenden soll: Die Förderwerkstatt wird in vier leerstehende Gebäude am Ende des Schloßparks ziehen. Dort wartet vor Haus 14 Konrad Flade. Vor ihm eine Gruppe junger Männer: Es sind Zivildienstleistende auf Bildungsurlaub. Haus 14 ist ein zweistöckiger Neorenaissancebau mit einer kleinen Freitreppe. Flade schließt die linke Eingangstür auf, ein paar Stufen führen in den schummrig-feuchten Keller. „Hier war die Gaskammer. In diesem Raum wurden Menschen in Gruppen bis zu 30 Personen vergast. Im Zweischichtbetrieb“, erklärt Flade. Nach dem Sitz ihrer Kommandozentrale auf der Berliner Tiergartenstraße 4 wurde die Massenvernichtung Behinderter „Aktion T4“ genannt.

Karge Spuren des Grauens in den vier Kellerräumen: Erhalten blieben der Fußboden, Reste des schwarzen Maueranstrichs. Die Falze in der Mauer zur Befestigung der Tür mit dem Beobachtungsfenster. Die beiden Löcher für die Gaszuleitungen. Die durch alle Räume führende Rinne zur Ableitung von Erbrochenem und Exkrementen. Die Winkeleisen, an denen eines der beiden Krematorien im Boden verankert war. Das Fundament für den Schornstein. Draußen ein Fragment der Mauer, von der das Gelände umschlossen war, und die niedrige Pforte, die zum Elbhang führt. Da kippte man die Asche der Ermordeten hinunter. Mit Blick auf die kleine Stadt Pirna und ihre gotischen Giebel, Renaissanceportale und barocken Erker.

Jahrzehntelang blieb der Schloßpark abgeriegelt wie eine Kaserne: mit Mauern und Stacheldraht. In den verstreuten Häusern der ehemaligen Pflegeanstalt installierte sich die DDR-Rüstungsindustrie. Lagerte Waffen, wo im Dritten Reich Klinikmitarbeiter gewohnt hatten. Wo vom Personal des „Sonderstandesamtes“ sogenannte „Trostbriefe“ an die Angehörigen der Ermordeten geschrieben und der „Urnenversand“ geregelt worden war. Der VEB Strömungsmaschinenbau produzierte unverdrossen. Auch im Keller des Hauses 14. Flade berichtet, daß Arbeiterinnen in den fünfziger Jahren deshalb ihren Dienst verweigern wollten. Die zuständigen Organe streuten daraufhin die Lüge, man wisse gar nicht, wo die Gaskammer und das Krematorium gestanden haben.

Der Pirnaer Konrad Flade gehörte 1991 zu den MitbegründerInnen des Kuratoriums „Gedenkstätte Sonnenstein“, dem die Stadt Pirna und der Freistaat Sachsen angehören. Nach Jahrzehnten des Verdrängens soll hier an 13.720 Opfer der „Euthanasie“-Aktion und mindestens 1.000 Opfer der Aktion „14fl3“, die Ermordung arbeitsunfähiger KZ-Häftlinge, erinnert werden. Am authentischen Ort und mit der gebotenen Ehrfurcht für die Toten. Und gleich neben der zukünftigen Behindertenwerkstatt. Geschmacklos, fanden einige.

Eckard Rurainsky, Psychologe der Förderwerkstatt, warnt vor einer emotionsgeladenen Diskussion über „Glaubensfragen“. „Ich könnte hier locker eine Stimmung erzeugen, in der keiner mit rüber will.“ Rüber, das heißt in die geplanten Werkstatträume rund um die Gaskammern. Der Psychologe weiß, daß sich daran die Geister scheiden. „Einige sagen: Was interessiert mich, was früher war. Andere fragen: Wie können wir an so einen Ort gehen.“ Trotz allem: Spätestens in zwei Jahren will die AWO-Werkstatt umziehen. Und dann, sagt Werkstattleiterin Karin Schmidt, „arbeiten wir weiter, nur unter besseren Bedingungen“. In einer Werkstatt mit Gedenkstätte. „Nicht umgekehrt!“

Wie das aussehen soll? Boris Böhm, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Kuratoriums, will eine „lebendige“ Gedenkstätte mit Bibliothek, Ausstellung, Seminarräumen, wo Jugendliche, die Pirnaer zuerst, etwas über die Vergangenheit lernen können. Umstritten sind allerdings noch einige Details. Wo können etwa die Busse der Förderwerkstatt halten? Auf dem kleinen Schotterplatz der ehemaligen Tötungsanstalt nicht, meint das Kuratorium. Dort hielten damals die tarngrünen Busse der „Gemeinnützigen Krankentransport-Gesellschaft“. Hinter zugestrichenen Fenstern saßen die nächsten Opfer. „Wir wollen im Keller von Haus 14 unbedingt die Gedenkstätte einrichten“, erklärt Böhm, „im Dachgeschoß vielleicht die Ausstellung.“ Besucher und Behinderte werden einander nicht ausweichen können.

Einen Werkstattbesuch als Abschluß des Rundgangs durch die ehemalige Vernichtungsanstalt, Menschen mit Behinderungen als lebende Exponate – diese Vision weisen die Gedenkstättenkuratoren weit von sich. So etwas wie „tägliches, organisiertes Miteinander“ werde es keinesfalls geben, stellt Böhm klar. Auch externe Behindertenbetreuer prostestierten. Es sei „wahnsinnig“, an einen so belasteten Ort zu gehen. Die Befürworter des neuen Standortes für die Werkstatt sehen das anders. Sie wollen die Behinderten nicht ausgegrenzt sehen. Weder aus der Arbeitswelt. Noch aus dem offen Umgang mit der Vergangenheit.

Historische Bilder – schädlich fürs Geschäft?

Ein ganz anderes Konzept favorisiert dagegen die Communitas, die vom Freistaat den gesamten Schloßkomplex erbgepachtet oder gekauft hat – bis auf den Bereich der ehemaligen Vernichtungsanstalt. Er sei eher für ein „stilles Gedenken“ meint Klaus Eckard, Geschäftsführer der Communitas- Projektentwicklungsgesellschaft München. Aber der Sonnenstein sollte „zukunftsfähig“ entwickelt und „nicht zu stark mit dieser Vergangenheit belastet“ werden. Kurator Böhm weiß, was der Manager des Technologie- und Büroparks Sonnenstein mit diesen Ratschlägen meint. Bei einem „Workshop Euthanasie“, den die Communitas im Juni 1994 veranstaltete, habe der Geschäftsführer sich klarer ausgedrückt: Der Keller solle am besten geschlossen bleiben. Einmal im Jahr, etwa zum Volkstrauertag, könnte man ja ein Gebinde niederlegen. Und als die Communitas in der ehemaligen Anstaltskirche ein Konzert veranstaltete, sollte das Kuratorium die dort provisorisch aufgebaute T4-Ausstellung des Berliner Historikers Götz Aly verhängen. Weil die Erinnerung nicht gut ist fürs Geschäft? Inzwischen hat Eckard die Kirche auf dem Sonnenstein gekauft. Die historischen Bilder von der Vergangenheit des Sonnensteins wurden umgehängt. In eine stille Ecke der Pirnaer Volkshochschule.

Wie man es sich dann vorstellte, das Sonnenstein-Projekt, teilte die Communitas auf einem großformatigen Schild mit: ein attraktiver Büro- und Verwaltungspark auf 12.000 Quadratmeter Fläche. Zur ehemaligen Vernichtungsanstalt kein Wort. Kürzlich wurde das Werbeschild abgebaut. Der Communitas-Geschäftsführer bleibt dabei. „Mit der Gedenkstätte haben wir nichts zu tun.“

Was der Mann verschweigt: Die Projektentwicklungsgesellschaft hat bei dem Streit um die Behindertenwerkstatt ein Wörtchen mitzureden. Denn sie hält ihre Hand auch auf das Gebäude, in dem die Förderwerkstatt bisher untergebracht ist. Kommune und Land drängen auf einen baldigen Umzug, weil sie befürchten, der potente Investor könnte sich zurückziehen. Neben dem Werkstattgebäude will die Communitas ein Hotel einrichten. Die Schloßschänke wirbt schon mal mit dem Slogan: „Alles Gute liegt so nah!“

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