: Bulgaren hungern nach Neuwahlen
■ Zehntausende demonstrieren in Sofia und in der Provinz. Regierung wird für unbezahlbare Lebensmittel und miserable Versorgung verantwortlich gemacht. Polizei schoß am Wochenende auf Demonstranten: Viele Verletzte
Sofia (rtr/dpa/AP) – Die bulgarische Opposition will so lange weiter demonstrieren, bis die regierenden Sozialisten Neuwahlen ansetzen. Der Vorsitzende der Union der Demokratischen Kräfte (UDK), Iwan Kostow, kündigte am Wochenende in Sofia tägliche Kundgebungen an. Die Gewerkschaften riefen für heute zu Streiks auf. In Erwartung neuer Zusammenstöße ging gestern mittag die Bereitschaftspolizei vor dem Parlamentsgebäude in Stellung.
Etwa tausend Studenten in der bulgarischen Hauptstadt setzten gestern ihre Proteste gegen die Regierung fort. Sie zogen durch die Innenstadt zur Parteizentrale der Sozialisten. „Mafia“ und „Mörder“, riefen sie immer wieder. Ab heute wollen sich auch Professoren und Dozenten an den Aktionen beteiligen. Auch in vier Provinzstädten gingen Zehntausende Menschen auf die Straße. Sie protestierten nach Angaben des staatlichen Rundfunksenders gegen „den Hunger und die Not“ und forderten Neuwahlen.
Zuvor hatte die Regierung Neuwahlen kategorisch abgelehnt. Man habe aus der Abstimmung vom Dezember 1994 ein klares Mandat, bis Ende 1998 zu regieren, und werde sich dem Druck der Straße nicht beugen, hieß es in der Nacht zu gestern nach einer Krisensitzung der Spitzen von Regierung und Sozialistischer Partei, die ohne Ergebnis endete. Der noch amtierende konservative Staatspräsident Schelju Schelew warnte vor einer politischen Explosion in Bulgarien.
Schelew erklärte, die Lage im Lande könnte bei einem weiteren Festhalten der Sozialisten an der Macht eskalieren. Er forderte Vertreter von Opposition und Regierung zu sofortigen Verhandlungen über Neuwahlen auf. Schelew hatte sich am Freitag hinter die Demonstranten gestellt und angekündigt, daß er Innenminister Nikolai Dobrew, der von den Sozialisten zum Nachfolger des zurückgetretenen Premiers Schan Widenow nominiert wurde, nicht mit der Regierungsbildung beauftragen werde. Auch Schelews Nachfolger Petar Stojanow forderte Neuwahlen. „Die Geduld eines Volkes ist zu Ende. Man kann nicht nicht mit 20 Dollar im Monat leben, wenn ein Kilo Fleisch zwei Dollar kostet“, sagte Stojanow.
Am Samstag hatten erneut 10.000 Menschen gegen den Anspruch der Sozialistischen Partei demonstriert, eine neue Regierung zu bilden. In der Nacht zum Samstag trieb die Polizei 50.000 Demonstranten mit Schlagstöcken und Warnschüssen auseinander, die den Ausgang der Abgeordnetenkammer blockiert hatten, in dem sich die sozialistischen Parlamentarier aufhielten. Mindestens 100 Demonstranten und zehn Polizisten wurden verletzt. Der Bürgermeister von Sofia, Stephan Sophijanski, forderte eine öffentliche Untersuchung der Gewalttätigkeiten.
Bei einer Inflation von mehr als 310 Prozent im vergangenen Jahr und einer drastischen Abwertung der Währung Lew gehört die Mehrzahl der Bulgaren zu den ärmsten Menschen in Europa. Um finanzielle Unterstützung vom Internationalen Währungsfonds (IWF) zu bekommen, muß Bulgarien einen vom Parlament gewählten Regierungschef als Gesprächspartner präsentieren. Die Devisenreserven des Landes haben einen Tiefststand von 518 Millionen US-Dollar erreicht. Der IWF-Vertreter in Sofia, Franek Rozwadowski, sagte gestern: „Die Wirtschaftslage in Bulgarien ist sehr schwierig. Das erfordert die möglichst schnelle Bildung einer neuen Regierung.“ Tagesthema Seite 3
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