■ Normalzeit: Glück und schußsicheres Glas
Die meisten Menschen glauben nicht mehr an das große Glück – und verfolgen deswegen nur noch das kleine. Odo Marquardt nennt es das „Vize- Glück“. Wobei den Betroffenen diese Unterscheidung nicht klar sein muß. Hilmar Kopper meinte deswegen, er hätte die Summe der Handwerker-Entschädigung nach der Schneider-Pleite besser „Coconuts“ statt „Peanuts“ nennen sollen. Bei anderen großen Immobilienpleiten hatten die kleinen Handwerker vielleicht wirklich nicht so viel Glück! Die Glücksforschung steht jedoch erst am Anfang.
Sie ist unter anderem ein Abfallprodukt der Erdgas-Exploration, die wiederum selbst zur Glückssuche – der Mineralöl- Konzerne nämlich – gehört, wenn man Professor Kenneth Hsü (von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich) folgt: „Unsere Untersuchungen der Ergebnisse am Ende des Mesozoikums, anhand von Bohrkernen aus dem Südatlantik, haben zu einer neuen Einschätzung der Entwicklungsmechanismen geführt. Im Gegensatz zu Charles Darwin, der das Aussterben der Arten als eine Folge des Bevölkerungsdrucks oder eines verlorenen Kampfes ums Dasein erklärte, stellen wir es uns als eine Reaktion auf ungewöhnliche Ereignisse vor. Nicht der Stärkste überlebt, sondern der, der am meisten Glück hat.“
Es gibt jedoch mehrere Glücke: Der Philosoph Wilhelm Schmid unterscheidet das Beatitudo- und das Fortuna-Glück. Ersteres ist die vorausschauende Sorge, um „sorgloser Besitzer seiner selbst“ und damit der eigentlich Glücklichste zu werden. Letzteres ist das von äußeren Zufällen abhängige Glück. Der wahre Glückliche wäre nach Seneca derjenige, der das Glück nicht nötig hat. Heute bedeute Glück jedoch „Genuß und diesseitige paradiesische Lust. Agitation zum Glück, das könnte die Beschreibung dessen sein, was der Kapitalismus betreibt“ (W. Schmid).
Von Michel Foucault stammt das trotzige Diktum: „Das Glück existiert nicht!“ In seinen letzten Jahren verfolgte er jedoch noch einmal den Glücksfaden der Sorge bis in die klassischen Anfänge der Selbsttechniken zurück. Eine gegenteilige Anstrengung unternehmen junge Mittelschichtler in Amerika und Asien – um nicht nur Opfer der Globalisierung zu sein, sondern auch einmal Nutznießer: Sie spekulieren immer heftiger mit Aktien. Hier begann dieser „Megatrend“ vielleicht mit dem Rummel um die Telekom-Aktie. Zugleich entstehen dieser Tage hier auch schon die ersten Reichen-Ghettos: mit Rundum-Videoüberwachung, Personen-Kontrollen und ausgeklügelter Sicherheits-Technik – ebenfalls eine (logische) Folge extremen individuellen Glücksstrebens.
Eine extrem kollektive Form entwickelte sich am anderen Ende der Welt – aus „amerikanischer Sachlichkeit und russischem revolutionären Schwung“, wie Stalin das ausdrückte. Seinen reinsten und zugleich ironischsten Ausdruck produzierte das Sowjet-Glück in den Werken des Sohnes eines Lokomotivschlossers aus Woronesh, der – Ironie der Geschichte – „Platonow“ hieß.
In den jetzt nach und nach auch auf Deutsch (bei Volk und Welt) erscheinenden Geschichten von Andrej Platonow geht es oft um Lokomotiven und immer ums Glück. Eine – als Ariadnefaden einer utopischen Sowjetschönen – heißt: „Die glückliche Moskwa“, eine andere: „Glück ist die Nähe eines Menschen“. Über das „felsenfeste Zukunftsglück“ und den „Wettbewerb um höchste Lebensbejahung“ („Aus lauter Rückständigkeit wurde mir ein bißchen schwer ums Herz“) schrieb Platonow: „Um das Leben zu verändern und in eine glückliche Zukunft umzuwandeln, muß man schon zu Beginn des Kampfes diese Zukunft in sich tragen, wenigstens in verborgenem Zustand, als Keim, als ein Element des persönlichen Charakters.“
Mit seiner berühmten Erzählung „Die Baugrube“ hatte das Berliner Ensemble neulich jedoch kein Glück: Die Inszenierung mußte nach vier Vorstellungen mangels Zuschauer abgesetzt werden, obwohl dem Ensemble gerade „die Baugrube“ von besonders aktueller Relevanz dünkte. Dies war jedoch trotz oder gerade wegen der vielen Russen auf den Berliner Baustellen nicht der Fall. Helmut Höge
wird fortgesetzt
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