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„Das war eine Art Hölle“

Als Kurier des polnischen Untergrunds sah Jan Karski die Massendeportationen im Warschauer Ghetto mit eigenen Augen. Erstmals seit Kriegsende kommt er heute nach Deutschland und wird darüber sprechen  ■ Von Andrea Böhm

Dreißig Jahre lang hatte Jan Karski drei Ziele vor Augen. Er wollte ein guter Amerikaner werden, seinen „verdammten“ polnischen Akzent loswerden – und vergessen. Er ist ein guter Amerikaner geworden, der mit polnischem Akzent spricht, nicht vergessen kann – und es auch gar nicht mehr will. Heute kann Jan Karski, der als Jan Kozielewski geboren wurde und zeitweise Witold Kucharski hieß, wieder erzählen. Wenn auch nicht alles. Es gibt Tage und Wochen aus seinem Leben, die beschreibt er einfach mit den Worten: „Ich habe Schlimmes gesehen.“

Er entschuldigt sich für die Unordnung auf seinem Schreibtisch und zündet sich die x-te Zigarette an. Ein bißchen nervös ist er vor seinem Flug nach Deutschland. Eiskalt soll es sein, hatte man ihm letzte Woche ausgerichtet. Er ist rüber zum Kaufhaus „Hecht's“ in der Washingtoner Suburb Chevy Chase gelaufen, um sich einen dickeren Mantel, Mütze und Galoschen zu kaufen. 83 Jahre ist er alt. Eigentlich, sagt er, solle er solche Reisen nicht mehr machen, sondern sich etwas Ruhe gönnen. Aber nun hat er versprochen zu erzählen. Bloß keine Erkältung. „Stellen Sie sich vor“, sagt er, „die Leute sitzen alle in den Reihen, und ich kann nicht reden, weil ich heiser bin.“

Es ist seine dritte Reise nach Deutschland. Zum ersten Mal war er 1935 als Jan Kozielewski gekommen. Sohn einer katholischen Handwerkerfamilie aus Lodz, in der der polnische Nationalheld Josef Pilsudski fast genauso angebetet wurde wie Jesus Christus. Aufgestiegen zum Anwärter des diplomatischen Dienstes. Praktikum bei polnischen Konsulaten in Deutschland. Am NSDAP-Parteitag in Nürnberg nahm er auf Einladung als Vertreter der polnischen Jugend teil. Mit Faszination und Bedauern, nicht selbst der „Herrenrasse“ anzugehören, verfolgte er den Aufmarsch der Hitlerjugend und den Auftritt Görings.

Als Witold Kucharski, Mitglied des polnischen Untergrunds, fuhr er 1942 zum zweiten Mal durch Deutschland, auf dem Weg zu Vertretern der polnischen Exilregierung in London. Sein Gesicht zeigte noch die Spuren der Folter nach wochenlanger Gestapo-Haft, unter den Hemdsärmeln verbarg er dicke Narben an den Handgelenken – Zeugnisse eines Selbstmordversuchs. Heute kommt er als Jan Karski, US-Staatsbürger, Ehrenbürger Israels, emeritierter Professor für osteuropäische Politik, ehemals Kurier des polnischen Untergrunds während des Zweiten Weltkriegs und Bote des jüdischen Widerstands, der dem amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt 1943 über den Holocaust berichtete – in der Hoffnung, dieser werde Schritte unternehmen, um Hitlers Genozid an den Juden zu stoppen.

„Roosevelt...“ – Karski zündet die nächste Zigarette an, steckt sie in ein imaginäres Mundstück und gibt mit majestätischem Groll in der Stimme eine verblüffend gute Imitation des Präsidenten – trotz polnischen Akzents. Er hat inzwischen Spaß an solchen Darbietungen. Doch das täuscht nicht über die Verbitterung hinweg, zwar gehört worden, aber wirkungslos geblieben zu sein. Obwohl er zu diesem Zeitpunkt wohl der einzige Gesprächspartner der alliierten Führer gewesen war, der sagen konnte: „Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.“

Jan Kozielewski alias Witold Kucharski hatte mit dem Terror der deutschen Besatzungsmacht bereits reichlich Erfahrung gemacht, als ihn im August 1942 zwei Führer des jüdischen Untergrunds, Leon Feiner und Menachem Kirschenbaum, kontaktierten. Als Kurier zwischen dem polnischen Untergrund und der Exilregierung war er 1940 der Gestapo in die Hände gefallen. Nach seiner Befreiung durch Gefährten ließen die Deutschen als Vergeltung 32 polnische Zivilisten erschießen.

Aus dem Mund von Feiner und Kirschenbaum hörte Karski erstmals Berichte über die Liquidierung des Warschauer Ghettos, über Massendeportationen. Im Auftrag des polnischen Untergrunds sollte Karski nach London reisen, um die Alliierten über die eskalierenden Konflikte mit Stalins Kommunisten im Kampf gegen Hitler zu informieren – und um der polnischen Exilregierung die Klagen der heillos zerstrittenen polnischen Fraktionen, darunter überzeugte Antisemiten, übereinander mitzuteilen.

Feiner und Kirschenbaum gaben ihm ganz genaue Forderungen mit auf den Weg: Die Verhinderung des Genozids an den Juden solle erklärtes Kriegsziel der Alliierten werden; die Alliierten sollten über Radio und mit Flugblattaktionen die deutsche Bevölkerung über die Massenvernichtung aufklären und zum Widerstand gegen Hitler auffordern; notfalls sollten Bombenangriffe auf ausgesuchte Ziele in Deutschland geflogen werden. Aber vorher, erklärte Feiner, sollte der Kurier selbst sehen, was in Worten kaum zu beschreiben war.

Wenige Tage später wurde Jan Karski – in Lumpen gekleidet, mit einem Judenstern auf der Brust – ins Ghetto von Warschau geschmuggelt.

Es war der Gestank der nackten Leichen auf den Straßen, der ihn fast umwarf. Für Begräbnisse verlangten die Deutschen eine Steuer, die niemand zahlen konnte. Also legte man die Toten auf die Straße und gab die Kleider an die, die noch nicht tot waren. „Dazwischen huschten zwischen Schlamm und Schutt die Schatten von menschlichen Gestalten an uns vorbei“, berichtete Karski fünfzig Jahre später seinen Biographen Tom Wood und Stanislaw Jankowski. „Auf der Suche nach irgendjemandem oder irgend etwas – mit einem irren Hunger und einer irren Gier in den Augen.“ In einem Haus versteckt beobachtete er zwei Mitglieder der Hitlerjugend, die beim alltäglichen Streifgang durch Fenster schossen und bei jedem Treffer triumphierend juchzten. Judenjagd. „Das war nicht mehr die Menschheit. Das war eine Art Hölle.“

Ein paar Tage später wurde Karski von Verbindungsleuten in eine kleine Stadt namens Izbica Lubelska gelotst. Man hatte zwei ukrainische Wachleute bestochen, Karski mit einer Uniform auszustatten und ins örtliche KZ zu schleusen. Bahngleise führten direkt ans Lager. Wachmänner trieben auf Kommando eines deutschen Offiziers Tausende von Juden in Güterwaggons, in denen zuvor ungelöschter Kalk ausgestreut worden war. Einige schossen, andere stachen mit Bajonetten, andere prügelten mit ihren Gewehrkolben auf die Menschenmenge ein. Tote wurden auf Lebende geworfen. Wenn absolut kein Körper mehr in den Waggon paßte, warfen die Wachleute die Ladetüren zu. Abgequetschte Gliedmaßen baumelten an den Außenwänden. Der Kalk begann, sich in das Fleisch der Toten, in die Wunden und Lungen der Lebenden zu fressen. In Verbindung mit Blut, Urin und Schweiß der Eingepferchten entstand Chlorgas.

Karski, in seiner Wachmannuniform, geriet in einen Schockzustand. „Sein Überlebensinstinkt“, schreibt Tom Wood, „der ihn während des Krieges nie verlassen hatte, verpuffte. Er verlor die Kontrolle über seine Emotionen, schluchzte und gestikulierte.“ Der ukrainische Wachmann zerrte ihn aus dem Lager, lieferte ihn beim Eisenwarenhändler in Izbica Lubelska ab – wütend, daß ihn seine kleine Schmiergeldaffäre fast Kopf und Kragen gekostet hätte. Vor den Augen des entsetzten Ladenbesitzers kollabierte Karski. Eine Flasche Wodka stürzte ihn schließlich in einen Schlaf der Alpträume.

Was Karski gesehen hatte, so recherchierte Wood, war kein Vernichtungslager – zumindest nicht nach den Maßstäben der Deutschen. In Izbica Lubelska wurden deportierte Juden aus Polen, der Tschechoslowakei und anderen Ländern jener fünfzehn Kilo persönlicher Habe beraubt, die sie auf Anordnung ins „Arbeitslager“ mitnehmen sollten. Von Izbica Lubelska führten die Züge in die Gaskammern des nahegelegenen Konzentrationslagers Belzec.

„Eden...“ – Karski drückt die Zigarette aus – wie immer nur zu zwei Dritteln aufgeraucht –, zündet die nächste an und starrt aus dem Fenster seines Apartments in Chevy Chase. Anthony Eden, der britische Außenminister, hatte ihn im Februar 1943 zweimal empfangen. Er hörte sich die Berichte des jungen Polen aus dem Ghetto und aus Izbica Lubelska an. Als Karski die Forderungen des jüdischen Widerstands nach politischen und militärischen Maßnahmen gegen den Holocaust darlegte, unterbrach ihn der Außenminister. „Wir wissen Bescheid über die Greueltaten der Nazis. Die Sache wird entsprechend behandelt.“

Eden wußte. Britische Geheimdienststellen hatten bereits im Juli 1941 Funksprüche der Wehrmacht und der deutschen Ordnungspolizei über Massenerschießungen von Juden in den besetzten Gebieten der Sowjetunion abgefangen. Zudem hatte die polnische Exilregierung in London in den Monaten vor Karskis Treffen mit Eden die Alliierten zu militärischen Maßnahmen gegen den Holocaust aufgefordert – aus der Befürchtung heraus, den nichtjüdischen Polen stünde ein ähnliches Schicksal bevor.

Auch Roosevelt konnte von den Berichten des polnischen Kuriers, der sich inzwischen Jan Karski nannte, nicht überrascht gewesen sein. Bereits im November 1942 hatte Rabbi Stephen Wise, Gründer des „World Jewish Congress“, nach Informationen durch das Genfer Büro der Organisation und des US-Außenministeriums, in Washington der Presse von Hitlers Plan der Vernichtung aller europäischen Juden berichtet. Doch im Verlauf seiner Missionen begriff Karski schnell zweierlei: Die Souveränität seines Heimatlandes Polen war in den Augen der westlichen Alliierten Verhandlungsmasse, um Stalins Kooperationsbereitschaft zu sichern; die Verhinderung des Genozids an den Juden war „ein Nebenaspekt, der einfach nicht in die militärische Strategie paßte.“

Oder nicht in das Vorstellungsvermögen seiner Gesprächspart ner. Zu diesen zählte in Washington auch Felix Frankfurter, Richter des Obersten Gerichtshofs und Vertrauter Roosevelts. „Um ganz ehrlich zu sein“, sagte Frankfurter nach Karskis Schilderungen aus dem Ghetto in Warschau und dem Lager in Izbica Lubelska, „ich glaube Ihnen nicht. Ich behaupte nicht, daß Sie ein Lügner sind, aber ich kann einfach nicht glauben, was Sie da sagen.“

Als 1945 die ersten Bilder aus den befreiten Konzentrationslagern um die Welt gingen, beschloß Jan Karski, nie mehr über das zu reden, was er gesehen hatte. Seine Studenten, die er nach seiner Dissertation als Politologe an der Washingtoner Georgetown-Universität unterrichtete, wußten nichts über seine Vergangenheit. Sie kannten ihn aufgrund seines vehementen Antikommunismus' nur als „Professor McCarthsky“.

Aber das Erlebte war nicht auszulöschen – schon gar nicht, als er Mitte der fünfziger Jahre in einem jüdischen Gemeindezentrum die Performance einer Tänzerin namens Pola Nirenska verfolgte. Völlig verzaubert bat er den Rabbi um die Adresse der Künstlerin, was dieser als unerhörtes Anliegen abwies, sich aber schließlich zur Herausgabe der Telefonnummer überreden ließ. Der Künstlerin bot Karski eine Einladung zum Dinner an, was diese als unangemessen zurückwies, aber zu einem Mittagessen einwilligte. „Irgendwann haben wir dann zusammen gefrühstückt“, sagt Karski. Und geheiratet. Fast die gesamte Familie von Pola Nirenska war in Lagern umgekommen – „aber zu Hause haben wir nie ein Wort über den Krieg geredet“.

Pola ertrug es nur schwer, als 1978 ein französischer Regisseur Jan Karski dazu überredete, erstmals nach 33 Jahren vor der Kamera über seine Erlebnisse im Ghetto und im Lager zu berichten. Der Mann verschwand mit seinen Filmrollen – und Karski hörte sieben Jahre nichts von ihm. Bis Claude Lanzmann 1985 seinen Film „Shoah“ der Öffentlichkeit vorstellte. Inzwischen haben ihn immer wieder Leute davon überzeugt, daß er erzählen muß. „Die Juden leben mit einer offenen Wunde – und ich auch. Ich habe zuviel gesehen.“ Elie Wiesel lud ihn 1981 zur „Internationalen Konferenz der Befreier“ ein. Gideon Hausner, der Staatsanwalt im Eichmann-Prozeß holte ihn und seine Frau nach Israel, wo zu seinen Ehren ein Baum an der „Straße der Gerechten“ gepflanzt wurde. Dazwischen Serien von Vorträgen in Synagogen, Kulturzentren und Universitäten. Pola starb 1992 – doch auf ihre Weise begann auch sie, kurz vor ihrem Tod über das Unbeschreibbare zu reden: durch eine Choreographie in Gedenken an die Opfer des Holocaust.

Nach ihrem Tod ist er aus dem gemeinsamen Haus in das Apartment gezogen, dessen Wände kaum Platz bieten für die Zeugnisse seines Lebens: Orden und Auszeichnungen, moderne Kunst und dazwischen immer wieder Porträts von Pola. Es sei die letzte Reise, versichert er, und er fahre ohne jede Ressentiments nach Deutschland. Danach will er sich endlich ausruhen. „Ich bin einfach müde“, sagt er zum Abschied. Er habe in seinem Leben wohl ein bißchen zuviel gearbeitet.

Jan Karski – 21. 1.: Berlin, Centrum Judaicum; 22. 1.: München, Kulturzentrum der Israelitischen Kultusgemeinde; 26. 1.: Bonn, Wasserwerk; 27. 1.: Köln, Jüdische Gemeinde

Im Februar erscheint seine Biographie: E. Thomas Wood, Stanislaw Jankowski: „Einer gegen den Holocaust“, dt. von Anna Kaiser, Bleicher Verlag, 359 S., 44 DM

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