■ Die Hornbrille – eine kulturkritische Betrachtung
: Im Zeichen des Dunkelgestells

Unter Älteren, die noch eine fundierte marxistische Ausbildung genossen haben, ist bekannt, daß sich Geschichte zweimal ereignet: erst als Tragödie, dann als Farce. Dieses Wort steht am Anfang des „18. Brumaire de Louis Bonaparte“ von Marx, und nur wenige Sätze weiter lesen wir: „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.“ Wer wollte dem widersprechen? Aber heute sind es nicht die Gehirne, sondern die Gesichter, auf denen der Alp sich niederläßt, denn es treibt ihn dahin, wo noch eine Unterlage zu finden ist, und die beamt er zurück in die tragischen Zeiten um 1960 und zu ihren Toten, deren Zombies sich heute vornehmlich auf Kleinkunstbühnen tummeln. Die Farce, die sie aufführen, springt den Zuschauer gnaden- und blicklos aus ihren Gesichtern – aber sind dies überhaupt noch solche, denn das menschliche Maß wurde ja verlassen? – in Form einer Sehhilfe an: der Hornbrille.

Alte Fotografien enthüllen nach und nach, daß viele (alle?), die man mit Recht verehren zu müssen glaubte, damals Opfer eines Massenwahns wurden, wenn sie denn nur ein wenig kurz- oder weitsichtig waren. Wer beschreibt das Entsetzen, wenn man heute frühe Gruppenbilder der Gruppe47 sieht? Aber sie stand nicht allein: Peter Weiß zum Beispiel, dessen Intellektualität sich von den 70ern bis zu seinem zu frühen Tod in randlosen Gläsern materialisierte, 15 Jahre zuvor ein Gesicht mit Trauerrand. Rühmkorf, dessen Forderungen später bis zum Äußersten gingen („Komm raus aus deinem Leichen-Entsafter!“), konnte damit dennoch nicht von der Tatsache ablenken, daß er sich zehn Jahre zuvor selbst ohne Not in einen pathologischen Zustand begeben hatte, der sein ohnehin hochgefährdetes spitzig-schmales Antlitz jeder Proportion beraubte. Und einige Jahre später trug Alexander Kluge ein kompromißlerisches Halb und Halb zur Schau.

Der von der Studentenbewegung praktizierte Vatermord – galt er nicht im Grunde verfehlten gesichtsästhetischen Kategorien, von denen man selbst nicht frei gewesen war? Und war der Kampf der RAF nicht einer gegen die Hornbrillengesichter, wenn auch ein zutiefst widersprüchlicher? Denn auch der in den Siebzigern zur Randlosigkeit geläuterte Horst Mahler verkam bald zur traurigen Managerschulungsexistenz. Kein Wunder allerdings, wenn man bedenkt, wer 1968 Pate gestanden hatte: Bei Horkheimer und Bloch kann keine noch so messerscharfe Dialektik kaschieren, daß sie sich ein Beispiel an Benjamin hätten nehmen können. Und auch dies: Adorno, der sich anheischig machte, nach den Erfahrungen von Auschwitz mobile Trupps zur Entbarbarisierung der Landbevölkerung aufzustellen, ward doch zugleich der Barbarei auf seiner Nasenspitze nicht inne. „In solche Not kann die Natur nicht bringen“ (Hölderlin). Habermas allerdings hielt sich mit der ganzen Wucht der Langweiligkeit seiner Theorie auch an dieser Stelle heraus (kontrafaktisch?).

Man stelle sich das alles einmal bei den deutschen Klassikern vor. Doch das frühe 19.Jahrhundert war auch hier der Inbegriff maßvoller Proportionen. Und in kluger Selbstbeschränkung sahen frühere Jahrhunderte den Kneifer als Normalfall an.

Weil die Nemesis vor Jahrzehnten bis aufs Blut gereizt wurde, erleben wir heute Satyrspiel und Farce des tragischen Hornbrillenzeitalters, in denen im Zeichen des Dunkelgestells alle Menschen auf der Kabarettbühne ostentativ zu Kleinbürgern werden: der durchgeknallte Polizist Herr Holm, der konsequent den eigenen Wagen abschleppen läßt, weil die Ehefrau ihn in der Auffahrt zum Eigenheim geparkt hat; der anonym bleibende faschistoide Altenheiminsasse, dem Kaffee und Kuchen bei der Caritas durch das simultane Verlesen von Droste-Hülshoff-Gedichten vergällt werden und der zeitgleich das Ausbleiben neuer Schwesternschülerinnen beklagt; das Ruhrpott-Faktotum Herbert Knebe („da kommt Fritz Borsig angeschissen!“); und schließlich der zweite Vorsitzende des Bonner Heimatvereins Rhenania, Hermann Schwaderlappen, dessen Name und Funktionsbezeichnung schon Charakteristik genug sind.

Die Beispiele ließen sich beliebig ergänzen. Sie alle ziehen Leben und Erfolg allein aus dem Umstand, triumphal der Hypertrophie des im Äußeren signalisierten Anspruchs zu erliegen, Höheres zu verkörpern. Doch alles Fingieren nützt nichts: Statt Bedeutsamkeit zu unterstreichen, erdrückt die Brille jeden potentiellen Rest von Persönlichkeit. Schon dies wäre Entlarvung und Rache an den Altvorderen genug. Doch kommt in den Kabarettisten nun auch noch endgültig zu sich selbst, was schon vor Jahrzehnten in den Physiognomien der großen und tragischen Zeit der Hornbrillenträger angelegt und recht eigentlich ihr Wesen war: das Arschgesicht.

Wir wollen indes nicht versäumen, des einen Gerechten zu gedenken und seiner Beharrlichkeit, mit der er sich weigerte, sein Äußeres über Jahrzehnte neuen Konventionen anzupassen (selbst Kohl knickte hier irgendwann ein), und der so der teuflischen Folgerichtigkeit von Tragödie und Farce entging: Nur durch solche Petrifizierung wurde Heiner Müller zum großen Unzeitgemäßen aus dem Geist der 20-Mark-Kassenzuzahlung. Hans-Martin Kruckis