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Ein alter Kulturkampf mit blutigen Folgen

Die algerische Krise hat nicht nur politische und wirtschaftliche Gründe: Die wichtigste Ursache ist der Verlust einer kulturellen Identität. Eine Folge der Politik der Nationalen Befreiungsfront (FLN), die nach dem Kampf gegen die französischen Kolonialherren Sozialismus, arabischen Nationalismus und Islam instrumentalisierte, um ihre Macht zu sichern  ■ Von Ahmed Ziri

Am 17. Dezember vergangenen Jahres verabschiedete Algeriens nationaler Übergangsrat auf Initiative von Präsident Liamine Zéroual ein Gesetz, das den Gebrauch des Arabischen als alleinige Sprache in allen sozialen Bereichen vorschreibt. Stichtag für die Umstellung ist der 5. Juli 1998. Mit diesem Gesetz hat die Staatsführung letzten Hoffnungen auf Demokratisierung ein Ende gemacht: Die langwährende Unterdrückung der Sprache und Kultur der Berber wird nicht aufgehoben, von Weltoffenheit durch den Gebrauch verschiedener Sprachen – beispielsweise des in Algerien verbreiteten Französisch – kann keine Rede sein.

Zuvor hatte Zéroual per Referendum eine neue Verfassung absegnen lassen, die seine ohnehin beträchtliche Machtfülle noch erweiterte. Gegen die nun sichtbaren Auswirkungen dieser Verfassung protestieren selbst jene Parteien, die dazu aufgerufen hatten, bei dem Referendum mit „Ja“ zu stimmen. Den Machthabern dient die neue Verfassung dazu, jeden Ansatz einer wirklichen Demokratie zunichte zu machen und die Rede-, Meinungs- und Pressefreiheit zu ersticken. Auf diese Weise werden all die Mißstände, die Algerien in seine blutige Krise getrieben haben, abermals für rechtmäßig erklärt.

Einige der Gründe für die algerische Krise sind wirtschaftlicher und politischer Natur. Die entscheidende Ursache liegt jedoch im Bereich der kulturellen Identität.

Jenseits der politischen Frontlinien ist das Land seit mehr als einem halben Jahrhundert in seinem Verhältnis zu seiner eigenen Kultur gespalten. Die beiden grundlegenden Auffassungen in dieser Frage wurden bereits in den Anfängen des algerischen Nationalbewußtseins deutlich: Jenen, die für die Öffnung gegenüber der Welt eintraten, standen die Vertreter eines stark religiös gefärbten Panarabismus gegenüber. Daraus ergab sich eine konfliktreiche kulturelle Doppelherrschaft, an deren Folgen das Land noch immer leidet.

Seit der Unabhängigkeit im Jahr 1962 haben die Verfechter eines Konservativismus, der alles abwehrt und verweigert, was seinen Normen und Vorstellungen nicht entspricht, sich die Macht und damit auch starken Einfluß auf Schule, Familie, Moschee, die Medien und andere Einrichtungen gesichert – im Namen des Islam, der Nation, der territorialen Integrität, der nationalen Einheit und Souveränität. Sie verlangen die einhellige Zustimmung zu jenen „Werten“, die selbst gesetzt haben.

Diese Politik wird betrieben unter dem Titel des Erhalts der ewigen Werte (der arabische Begriff thawabit [Fixstern] bringt diese angebliche Unveränderbarkeit noch deutlicher zum Ausdruck). Diese Argumentation wird besonders dann bemüht, wenn die Regierenden spüren, daß das System bedroht ist, das sie selbst an der Macht hält.

So haben die Machthaber seit 1962 dafür gesorgt, daß viele Jahrhunderte der Geschichte Algeriens nicht dokumentiert und nicht gelehrt werden. Das Land ist wiederholt erobert worden – durch die Phönizier, die Wandalen, Byzanz, die Araber, die Türken und die Franzosen –, aber in der verkürzten Sichtweise unserer Geschichte wird seit langem die Ankunft der Araber im 7. Jahrhundert zum Ausgangspunkt der algerischen Geschichte erklärt. Auf diese Weise bleiben viele Aspekte ausgeschlossen, die in der Struktur des nationalen Selbst eine bestimmende Rolle spielen – eine gesellschaftliche Identitätsbildung wird so behindert.

Das Ende der französischen Kolonialherrschaft bedeutete nicht nur die Rückgewinnung der nationalen Souveränität und territorialen Integrität, sondern auch und gerade die Wiedererlangung von geraubter Identität und Persönlichkeit. Identität heißt, sich als aktiven Teil eines gegebenen Systems von Normen und Werten zu begreifen, als Teil einer gemeinsamen Zukunft, die sich auf eine Kultur gründet, deren Geschichte und deren Ziele man teilt und akzeptiert. Für die innere Struktur sind zahlreiche Faktoren bestimmend: Glaubensrichtungen, kulturelle Werte, Mythen und Legenden, Erfahrungen und Symbole, Formen der Ethik und Ästhetik, die über die zeitlichen und örtlichen Besonderheiten hinausweisen.

Geschichtlich gilt der Sieg des Islam als die Geburtsstunde Algeriens. So erklärt sich der immer wieder bemühte arabisch-islamische Mythos. Von der vorislamischen Geschichte, die sich über Jahrtausende erstreckt, ist einfach nicht die Rede. Zwar muß auch in der offiziellen Lesart gelegentlich eingeräumt werden, daß in der Vergangenheit Algeriens die Berber eine bestimmende Rolle spielten. Daß diese Tatsache auch aus der Gegenwart nicht wegzuleugnen ist, will man jedoch nicht wahrhaben. Anerkennung finden die Berber allenfalls noch als Ethnie, keinesfalls als kulturelle Größe. Einer der wichtigsten Aspekte unserer Identität wird somit marginalisiert oder gänzlich verdrängt.

Was die Religion betrifft, so wurden die Moscheen nach der Unabhängigkeit von der Einheitspartei FLN für die Zwecke ihrer Parteipropaganda eingespannt. Von modernen Entwicklungen in vielen Wissensbereichen wurden sie weitgehend isoliert. Über Jahrzehnte hinweg haben die jeweils Regierenden die Moschee, den klassischen Ort der Religionsausübung, benutzt, um ihre politischen Strategien zu rechtfertigen, beispielsweise die Umwälzung der Landwirtschaft, die Einführung des Sozialismus. In ihren Predigten, deren Inhalt offiziell vom für die Religion zuständigen Ministerium bestimmt wurde, erklärten die Imame, der Koran sei in seinen Grundzügen sozialistisch. Marx habe das heilige Buch nur neu interpretiert und auf seine Weise daraus geschöpft. So sollte der Sozialismus die allerhöchsten Weihen und den Segen der gesamten Bevölkerung erhalten.

Von der angekündigten sozialen Gerechtigkeit, auf die das ganze Volk hoffte, wurden jedoch deutliche Abstriche gemacht, vor allem bei der Rolle der Frau. In den Predigten wie in den demagogischen Ansprachen, die in den staatlichen Medien verbreitet wurden, konnte man immer wieder hören, daß unter den Religionen allein der Islam zum Schutz der Frauen angetreten sei, indem er das Verbot aussprach, neugeborene Mädchen lebendig zu begraben. Aber den Frauen wurden grundlegende Rechte verweigert, zum Beispiel das Recht auf einen zeitlichen Mindestabstand zwischen zwei Schwangerschaften. Vor allem in den siebziger Jahren wurde die offizielle Bevölkerungspolitik, die von der Überzeugung getragen war, daß Algerien mehr als 70 Millionen Einwohner ernähren könne, durch Predigten unterstützt, in denen die Verwendung moderner Verhütungsmittel untersagt wurde. Nach dem 1984 vom Parlament verabschiedeten Familienrecht, das noch immer in Kraft ist, gelten die Frauen – über die Hälfte der Bevölkerung – nach wie vor als unmündig.

Nicht zuletzt an der Lage der Frauen läßt sich ablesen, wie schlimm es um die kulturelle Situation bestellt ist, und welche Formen repressiver Mentalität der Staat fördert. Wo die Frauen unterdrückt sind, gibt es keine Kommunikation mehr, keine Beziehungen des Austauschs und der wechselseitigen Bereicherung. Statt dessen macht sich eine Herrschaft breit, die alle herkömmlichen Werte auslöscht und zwangsläufig jene Ungerechtigkeiten hervorbringt, von denen die sozialen Beziehungen bestimmt sind: Zwischen Männern und Frauen, Chefs und Untergebenen, den politischen Führern und dem Volk bestehen Unterwerfungs-, wenn nicht gar Knechtschaftsverhältnisse. Es herrscht ein Fatalismus, den die Religion mit ihren Botschaften absegnet, die Tag für Tag in allen Medien abgesondert werden.

Zum Beispiel strahlte das algerische Fernsehen im vergangenen Jahr zum Eid-Fest am Ende des Fastenmonats Ramadan einen Kommentar aus. Es wurde auf Sinn und Bedeutung des Festes hingewiesen und bedauert, daß der Tag in recht gedrückter Stimmung gefeiert werde – wegen der Mordanschläge und weiterer Attentate, die am Vortag von den Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) begangen worden waren. Doch am Schluß des Kommentars hieß es dann, der Tod sei sowieso das unabwendbare Ende für alle Lebenden, das Schicksal (maktub). Eigentlich muß man sich also fragen, weshalb die Anschläge überhaupt verurteilt werden. Ist das nicht eine Blasphemie, wenn es doch das Schicksal all der Journalisten, Ärzte, Professoren und anderen Intellektuellen oder einfachen Bürgern war, bei einem Anschlag ums Leben zu kommen?

Man könnte Tausende solcher Beispiele zitieren, die belegen, welche Art von „politischer Kultur“ die Regierenden in den Moscheen und Medien vertreten. Es kann unabsehbare Konsequenzen haben, wenn solche Botschaften in offizieller Manier von staatlichen Organen verbreitet werden – in einem Land, dessen Bevölkerung zu einem Viertel aus Analphabeten besteht und zu 60 Prozent aus Menschen, die unter Zwanzig sind.

Die andere Stütze dieser „Kulturpolitik“ mit dem Ziel, den „neuen Menschen“ zu schaffen, ist die Schule. Die Arabisierung, die unmittelbar nach der Erlangung der Unabhängigkeit eingeleitet wurde, stand im Zeichen von Rache und Vergeltung gegen die ehemalige Kolonialmacht. Nur so erklärt sich die Irrationalität, die das Vorgehen kennzeichnete und die Rückständigkeit, die dadurch im Verlauf von dreißig Jahren entstand. Um ihre Politik erfolgreich durchzuführen, holten sich die Machthaber Hilfskräfte aus dem Nahen Osten. Diese waren mit der Situation im Land nicht vertraut und erwiesen sich als kaum geeignet, guten Unterricht zu bieten. In den Schulen wurden überwiegend Anhänger der arabisch-islamischen Bewegung eingesetzt, die man in Ägypten, Jordanien und vor allem in Syrien gerne loswerden wollte, weil sie den dortigen politischen Führungen nicht ins Programm paßten.

Die „Rückkehr“ Algeriens aus der Kolonialherrschaft in den Kreis der „großen Familie der Araber“ hatte eine Reihe ideologischer und kultureller Aktivitäten zu Folge, die dazu dienen sollten, in den Schulen jenen „neuen Menschen“ zu schaffen, den sich die Regierenden am Schreibtisch ausgedacht hatten. Durch diese von Rache und Vergeltung getragene Arabisierung sollten die Menschen zur Ablehnung all dessen gebracht werden, was nicht arabisch und/ oder muslimisch war. Soweit sie nicht dem Handel und der Bereicherung dienten, wurden die Beziehungen zu anderen Kulturen zum Problem. So war die französische Sprache, die man, nach den Worten des Schriftstellers Katib Yacine hätte als „Kriegsbeute“ betrachten müssen, häufig Gegenstand abwertender Kritik – weil es sich eben um die Sprache der Kolonialmacht handelte. Nachdem man Frankreich losgeworden war, sollte Algerien nun auch von der kolonialen Sprache befreit werden. Natürlich richteten sich solche Parolen nicht an die Nomenklatura, die ihre Ferien gern in Frankreich verbrachte und deren Kinder die französische Schule besuchten.

So wie die Arabisierung angelegt war, ging es nicht bloß um Alphabetisierung oder die Rückgewinnung eines Moments von Identität, sondern um die „Arabisierung des Denkens“, wie es einer der Verfechter des Programms formuliert hat. Dabei wurde eine Art Einheitsschablone angelegt, die den anderen Sprachen, die im nationalen Rahmen eine Rolle spielten, also dem gesprochenen arabischen Dialekt der unteren Schichten und der Berbersprache, kein Existenzrecht ließ.

Im staatlichen Rundfunk rief der für Religionsfragen zuständige Minister gar zur „Arabisierung“ auf, mit der Begründung, es handele sich „um die Sprache Gottes, die man am jüngsten Tag braucht, um vor dem Schöpfer Rechenschaft abzulegen“. Demnach müssen alle, die nicht Arabisch sprechen, dereinst zur Hölle fahren.

Der Clique, die der nationalen Befreiungsbewegung ihre Maßstäbe aufgezwungen hat, ist es gelungen, den Strom der Freiheit umzulenken und die Früchte jener Anstrengungen und Opfer zu ernten, die das Volk auf sich genommen hat. Von den Kompromissen zur Korruption, von der Weigerung, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, zur völligen Abkehr von Objektivität und Vernunft.

Kulturell spielt in Algerien nach wie vor die Verweigerung, die Ablehnung und die Ausgrenzung eine Hauptrolle: Selbstverleugnung, Ablehnung des Fremden, Nichtbeachtung selbst der jüngsten Geschichte. Gleich nach der Unabhängigkeit fielen die künstlerischen Vorkämpfer des Befreiungskrieges in Ungnade. Dichter, Filmemacher, Musiker, Schriftsteller, Journalisten – alle, deren schöpferische Tätigkeit nicht in die verordneten Schablonen paßt – wurden zum Schweigen verdammt oder ins Exil getrieben. Weil es keine kämpferischen und schöpferischen Kräfte mehr gab, konnte sich kein kulturelles Leben und keine lebendige Demokratie entwickeln.

Diese bittere Bilanz ist das Resultat der Kulturpolitik der FLN. Die Islamisten wollen nun diese Tradition fortführen. Sie selbst sind eine ideologische Folgeerscheinung jener Einheitspartei, die das Land über die volle Zeitspanne einer Generation beherrscht hat.

Die Zerschlagung der Familie und ihrer althergebrachten Werte, die Unmündigkeit, in der die Frauen gehalten werden, die Schulbildung, die nur Selbstverleugnung und die Rekrutierung von Anhängern zum Ziel hat, die physische, aber auch und vor allem kulturelle Entwurzelung großer Teile der Landbevölkerung – all das sind „Erfolge“ der Machthaber in ihrem Bemühen, eine Politik durchzusetzen, die ihr totalitäres System dauerhaft absichert.

Die zwielichtigen Gestalten, die von den jetzigen Verhältnissen provitieren, verdanken ihren Erfolg einer engstirnigen und stark religiös gefärbten Auffassung von nationalem Selbstbewußtsein. Solange diese „arabischen Islamisten“ nicht abgedankt haben, wird es schwer fallen, die nationale Identität neu zu bestimmen.

Es ist dringend geboten, die Religion wieder zu einer Angelegenheit der Bürger zu machen, sie jeder Beeinflussung durch die politischen Parteien und den Staat zu entziehen. Ebenso dringlich ist es, die Frauen aus ihrer Rolle als Gebärmaschinen zu befreien. Die Schule muß wieder zu einem Ort werden, an dem nicht indoktriniert, sondern Wissen vermittelt und persönliche Entwicklung gefördert wird. Nur so können Kinder lernen, wie man selbständig denkt, und nur so können sie jene Fähigkeit erwerben, die eine machtvolle Waffe ist: Zu wissen, wann man „Nein“ sagen muß.

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