Die Rückkehr der Mythen

Ein Haus voller Wünsche – in den Sophiensälen hielten einst Karl Liebknecht und Clara Zetkin ihre Reden. Auf dem Spielplan heute: Tanz und Theater der etwas anderen Art  ■ Von Katrin Bettina Müller

„Hier wohnt der Geist. Hier leben die Ideen.“ Auf Anhieb hat sich Francesca Spinazzi verliebt in die Sophiensäle, als sie für den Berg/Büchner-Zyklus des Philharmonischen Orchesters Räume für Lesungen suchte.

Das brüchige Ambiente des alten Vereinshauses scheint ihr beste Voraussetzung, um den „magischen Moment der Leseprobe“, die Transparenz der „Formwerdung“ hinüberzuretten in eine Lesung, in die Schauspieler (Angela Winkler, Gerd Wameling u.a.) Zuschauer einbeziehen. Hier könnte die Intimität eines großen Familienfestes gelingen, auf dem man den Wörtern wie dem Imbiß nachschmeckt.

Geschichte statt technischer Ausstattung, die Unruhe kreativer Köpfe statt der Sachzwänge einer Institution: Die Sophiensäle in Mitte, die am Mittwoch ihr Projekt und ein Programm für 1997 vorstellten, punkten mit dem Flair des Aufbruchs. Noch vermitteln sie jedem Besucher den Kitzel, ein vergessenes Stück Stadtgeschichte wiederzuentdecken.

Die Architektur des Backsteinbaus zeigt ihre Knochen: Im 500 Quadratmeter großen Saal, in dem schon Karl Liebknecht und Clara Zetkin auftraten, hängt das Eisengerüst der Galerie wie ein Skelett über den Köpfen der Besucher. Zwanzig Jahre lang war das Gebäude, wenige Schritte von den Hackeschen Höfen entfernt, in einen Dornröschenschlaf versunken, genutzt als Werkstatt des Maxim Gorki Theaters.

Jochen Sandig ist überzeugt: Die Authentizität des Ortes stimuliert zu unkonventionellen Theaterformen. Vor einem Jahr begann er mit der Choreographin Sasha Waltz und den Regisseuren Jo Fabian und Dirk Cieslak, die Sophiensäle für Proben und Aufführungen zu mieten. Aber sie wollten mehr als eine günstige Zwischennutzung der Immobilie, die jetzt von der Wohnungsbaugesellschaft Mitte an den privaten Eigentümer zurückgeht. Unter dem Label „sophiensaele“ haben sie ein Konzept für eine Produktions- und Spielstätte entwickelt. Schon im vergangenen September führten Sasha Waltz & Guests einen Monat lang die „Allee der Kosmonauten“, Familienbilder aus dem Plattenbau, auf: Die lange Spielzeit, die sonst in der Struktur der Off-Spielstätten nicht vorgesehen ist, hat das Stück nicht nur „wachsen“ lassen, sondern ermöglichte auch eine Refinanzierung der Kosten. Für ihr nächstes Stück, das vom Rhythmus der Straße, dem Zufall an Imbißbuden und Kiosken handeln soll, bildet das offene Klima des Hauses den idealen Ort.

Auch für Fabian und Cieslak geht es nicht nur um praktische Notwendigkeiten. Fabian sieht das Haus als einen noch nicht von Ideologien besetzten Freiraum. Hier können Biographien aus Ost und West aufeinandertreffen und haben außerhalb eingefahrener Hierarchien die Chance für etwas Neues. Cieslak peilt für Juni ein Stück an, das den Zerfall der sowjetischen Gesellschaft und die Rückkehr der Mythen zum Ausgangspunkt nimmt. Wie Waltz knüpft er unmittelbar an den Umbruch der Gegenwart an. Da schließt sich ein Kreis zum wiedererweckten Leben des Hauses.

Bisher ist die minimale Ausstattung zusammengeliehen: vom Theater am Halleschen Ufer, dem Podewil und dem Hebbel Theater. Dort sieht man potentielle Partner, nicht Konkurrenten. Teil des Konzepts ist der Aufbau eines Produktions- und Servicebüro für die freie Szene. Lang ist die Liste der Vorhaben schon jetzt: Das Jugendtheatertreffen lädt hierhin Horváths „Kasimir und Karoline“ aus Krefeld ein, weil die Inszenierung an Biertischen in einem herkömmlichen Theaterraum peinlich wäre. Weitere Festivalorganisatoren sind dem Charme des entstehenden durchaus erlegen; wenn, tja wenn denn die Vision von dem neuen Arbeits- und Aufführungsort von der Stadt finanziert wird.

Über Geld redet Jochen Sandig, aus eigenem Mut und dem Vertrauen der Künstler heraus künstlerischer Leiter der Sophiensäle – „ehrenamtlich“, wie er das unbezahlte Arbeiten freundlich umschreibt – erst am Schluß und möglichst kurz. Bisher wurden die Mieten privat und aus Projektmitteln der Künstler bezahlt. Das war eine nicht länger tragbare Vorleistung. Mit dem Eigentümer haben sie eine Option ausgehandelt, selten günstig bleibt das Angebot. 150.000 Mark haben sie als Spielstättenförderung beantragt. Damit mischen sie auch in der Diskussion um die Veränderung der Förderungsstrukturen mit. Wenn es außerdem gelingt, über Projektförderung wieder an Produktionsmittel zu kommen, lassen sich auch die Nutzungsmöglichkeiten für Gastspiele ausbauen.

Zu viele Fragezeichen? Alles nur Spekulation, bis Beirat und Senat über Förderung entschieden haben? Unsere Ideen sind so gut, da müssen wir dran arbeiten, sagen sich die Tanz- und Theaterleute, die sich von der Geldnot nicht lähmen lassen wollen.

„Büchner lesen in den Sophiensälen“. Sophienstraße 18, 25.1., 20 Uhr, 26.1. 16 und 20 Uhr, 1. + 2.2., 20 Uhr. „Afrika“ von Dirk Cieslak bis 2.2., Mi. bis So., 21 Uhr