piwik no script img

Vorsicht: zerbrechlich!

■ Stefanie Menzingers „Wanderungen im Inneren des Häftlings“, ein sperrig-filigraner Briefroman, so verschlüsselt wie stilistisch konsequent

Wer ist der Häftling? Der Mann, dem die hungrige Ratte „zwischen die gespreizten Beine geklemmt“ wurde, die sich durchgefressen hat und „oben durch den Mund, wie durch eine Tür“ satt wieder herausgekommen ist? Oder sind wir alle Häftlinge im Gefängnis Welt? In Stefanie Menzingers erstem Roman „Wanderungen im Inneren des Häftlings“ (ihr vielbeachteter Erstling „Schlangenbaden“ war eine Sammlung von Erzählungen), für den sie am Montag den Förderpreis des Bremer Literaturpreises erhält, bleibt die Häftlings-Metapher ungeklärt. Wie so vieles in diesem filigranen Gespinst aus unkenntlich gemachten Erzählperspektiven, nie plastisch hervortretendem Personal, das sich in einer Welt bewegt, die sich möglicherweise irgendwo im baltischen Visby verorten läßt, möglicherweise im Nirgendwo.

Fest steht in diesem sperrigen Briefroman mit seiner Hauptfigur, Emily Hazelwood, die nicht einfach Briefe schreibt, sondern von zu schreibenden und geschriebenen Briefen erzählt, wenig; nicht einmal, ob die Angaben zum Äußeren Emilys zutreffen: Ist sie tatsächlich von zierlichem „Madamchenwuchs“, der in späteren Briefen dementiert wird? Und: Wem schreibt sie? Versehrten. Von denen sie alles wissen will. Von Paul Waterman, der gezwungen wurde dabeizustehen – „Wer nicht zuschauen wollte, dem haben sie die Lider weggeschnitten“ –, als sie dem Häftling die Ratte zwischen die Beine gesetzt haben. Von dem Überlebenden eines Schiffsunglücks; von dem Lehrer, dessen eine Gesichtshälfte verbrannt ist.

Wer sich auf den Sprachduktus der 31jährigen einläßt, wird damit belohnt, daß er über 190 Textseiten hinweg selber zum Häftling wird, Häftling in einer allseitig wie von einem Gazeschleier verhüllten Wirklichkeit. Wer sich nicht darauf einläßt, weiß schnell warum. Die sprachlichen Tricks, mit denen die Autorin Verwirrung auf hohem literarischen Niveau stiftet, sind Geschmackssache: „– Des nachts ..., begann er, fuhr ich fort: lagen Sie wach und weinten, nachdem es passiert war, er blickte mich an mit dem Ausdruck gefolterter Seligkeit.“

Durch den gesamten Roman zieht sich die Mixtur aus vollendet unappetitlichen Schreckensschilderungen und ebenso vollendeten, subtil gestalteten Idyllen, die in der Diktion einer detailverliebten literarischen Schwelgerei des Fin de siècle nahestehen. Ein Stilgebräu, zugegeben, das es in sich hat. „Zu meiner Rechten reckte sich das unfertige Gebäude in den dunklen Himmel wie verzweigte Bäume, die ihre zugerichteten Äste hochhalten, als könne das jemand bemerken. (...) Meine Augen sind wie Tee in der Tasse, die der Gast stehenläßt, wenn er geht, und wie der dunkle Weg vor mir, der mich aus all seinen Löchern betrachtet, ob ich nicht falle und mir das Knie aufschürfe an einem der vielen herrenlosen Steine.“

Dem Buch als Motto vorangestellt ist denn auch ein Zitat einer anderen Emily, der großen amerikanischen Lyrikerin des 19. Jahrhunderts, Emily Dickinson. Dickinson, die jahrzehntelang isoliert im Haus ihres Vaters lebte, verbindet ebendiese Isolation mit der Emily Hazelwood. Eine Isolation, die einhergeht mit dem unstillbaren Verlangen, möglichst präzise von den Vorgängen außerhalb ihres Aktionsradius zu erfahren. Vorgänge, die sie dann an ihren eigenen (offenbar lediglich aus der Innenschau gewonnenen) Erfahrungen reflektieren kann.

Briefe als Hilferufe, als Lebenselixier. Doch antworten die Angeschriebenen überhaupt? Die Erzählerin macht es uns jedenfalls glauben – mal in der dritten Person, mal in der ersten. Sicher ist: Alle Briefadressaten kommen an Neujahr zu Emily zu Besuch. Darum geht es; es ist spürbar, wie Emily sich in Fahrt schreibt, als sie im Nachhinein die Liaison-Haltigkeit des Abends rekapituliert. Wer mit wem? Warum? Auf welche Weise?

Plötzlich sind sie da, in Fleisch und Blut, die Leute, von denen sich Emily immer Aufklärung zu verschaffen hoffte über Fleisch und Blut. Es hilft nichts: „Ich habe alles verloren und alles gewonnen“, heißt es am Schluß. Und das Auge, das die Erzählerin schließlich „aus dem unteren Becken des Klos“ anblickt, sieht „in eine andere, ferne, mir unbekannte große Welt“.

„Wanderungen im Inneren des Häftlings“ sind ziellose und rastlose Gänge, Rundwege und Irrwege. Um es mit Rilke zu sagen, dessen lyrischem Tonfall sie sich bisweilen nähert: Sie führen keinen hin. Der Abgrund, in die die „Wanderungen“ den Leser stoßen können, ist ästhetischer Natur. Einer Natur, die in voller Blüte steht und deren Blüten oftmals derart schillern, daß es scheint, die Autorin wolle uns blenden mit den akademischen Nebenkriegsschauplätzen, die sie installiert, und den fragil verschachtelten Satzperioden, die uns Antworten verweigern, außer einer: Auf welch hohem Niveau Sprache um sich selber kreisen kann!

Alexander Musik

Stefanie Menzinger: „Wanderungen im Inneren des Häftlings“. Ammann Verlag 1996, 191 Seiten, 34 Mark.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen