: Die vergessenen Überlebenden
■ Zum zweitenmal gedenkt heute Deutschland der Opfer des Nationalsozialismus. Die Juden in Osteuropa wurden einst besonders verfolgt und werden heute besonders benachteiligt: Staatliche Entschädigung wird ihnen versagt
Berlin (taz) – Lagebericht aus Riga an die deutschen Spender: „Ein bettlägeriger Patient leidet an Wundbrand in den Beinen. Amputation, Gehunfähigkeit. Außer vom Verein erhält er keine Unterstützung.“ Ein anderer, Herr C., „liegt durchgehend, hört normal, kann aber nicht sprechen. Die Tochter erhält Pflegegeld vom Verein.“ Am Ende ein P.S.: „Vorgestern hörten wir, daß Herr C. gestorben ist.“ Alexander Bergmann ist einer der wenigen Juden, die das Ghetto von Riga überlebt haben. Der 72jährige Rechtsanwalt ist ehrenamtlicher Vorsitzender des „Vereins der ehemaligen jüdischen Ghetto- und KZ-Häftlinge“. 1994 zählte seine Liste der Vereinsmitglieder noch 116 Personen, jetzt sind es noch 88. Von ihnen sind 77 chronisch krank, 10 von ihnen permanent bettlägerig.
Ihnen würde es noch schlechter gehen, wenn es in Deutschland nicht acht private Initiativen gäbe, die Geld und Medikamente für die baltischen Juden sammeln. Darunter Hanna und Wolf Middelmann aus Göttingen, die vor allem den Verein um Alexander Bergmann unterstützen. Nach ihren Besuchen in Riga schreiben sie diese Lageberichte für die deutschen Spender. Sie lesen sich deprimierend. Menschen wie die Middelmanns oder Margot Zmarzlik aus Göttingen oder Waltraud Balbarischky aus Tübingen, alle engagiert für die baltischen Juden, brauchen keinen „Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus“. Sie tun, was die Pflicht der Bundesregierung wäre. Individuelle humanitäre Hilfe für Menschen, die im ganz besonderen Maße von den Nazis verfolgt und ausgeplündert wurden. Von den 90.000 Juden, die es vor dem Krieg in Lettland gab, überlebten nur knapp 1.000.
Der Leiter des Jüdischen Museums in Riga, Margers Vestermanis, berichtete kürzlich, daß die Nazis bis 1944 rund 4,5 Millionen Reichsmark mit dem Verkauf jüdischer Immobilien in Lettland einnahmen und 5,5 Millionen Reichsmark mit der „Verwertung der Judenarbeit“. Derzeit versucht er auszurechnen, wieviel Geld in die Reichskasse durch die „Gold- und Ehering-Abgabe“, den Verkauf von Gemälden, Möbeln, Schmuck geflossen ist. Er rechnet als Historiker, nicht weil er die Hoffnung hat, daß die Bundesregierung die individuelle Entschädigung für baltische Juden endlich beschließt. Darüber zu reden findet er inzwischen würdelos.
13.000 erhalten keinen Pfennig
So ähnlich wie den lettischen Juden geht es allen baltischen, rumänischen, bulgarischen, slowakischen, griechischen und tschechischen Opfern des Nationalsozialismus, die heute noch in ihren Herkunftsländern leben. Insgesamt leben noch etwa 13.000. Sie alle erhalten keinen Pfennig. Für die russischen, polnischen, ukrainischen und weißrussischen Verfolgten gibt es wenigstens spezielle Stiftungen, die eine Einmalabstandszahlung leisten. In Rußland erhalten KZ-Häftlinge einen Sockelbetrag von 300 Mark und pro Monat KZ- Haft 30 Mark. Einen Betrag in ähnlicher Höhe können in all diesen Ländern auch Zwangsarbeiter beantragen, ob jüdisch oder nicht, vorausgesetzt, sie können Belege vorweisen.
Das größte Versäumnis der Bundesregierung ist aber, daß sie die Opfer des Holocaust unterscheidet in Opfer, die im Westen leben, und Opfer, die im Osten wohnen. Würde Alexander Bergmann nach Deutschland, Westeuropa, in die USA oder nach Israel auswandern, hätte er Anspruch aus dem Härtefonds der Bundesregierung oder aus dem im Zuge der deutschen Einigung eingerichteten Artikel-2- Fonds. Er würde 5.000 Mark als Einmalzahlung und 500 Mark Verfolgtenrente pro Monat bekommen. So wie sein älterer Bruder, der 1994 nach Münster zog, weil er schwer krank ist. Von Wolf Middelmanns jüdischen Bekannten in Riga sind sechs allein aus finanziellen Gründen ausgewandert. Ihr Durchschnittsalter ist 80. Alle haben Heimweh.
Diese Wohnortbestimmung gilt nur für die Opfer des Nationalsozialismus, nicht aber für die Vollstrecker. Kriegsverletzte Angehörige der SS, die im Dienste der deutschen Wehrmacht standen und denen keine Verbrechen gegen die Menschlichkeit nachgewiesen werden können, bekommen sehr wohl eine Versehrtenrente aus Deutschland. Individuell, Monat für Monat, und wenn sie tot sind, ihre Witwen.
„Nimmt den Tod in Armut in Kauf“
In Lettland profitieren von diesem Versorgungsgesetz 179 Personen, davon 97 Witwen. In Italien 152 Teilnehmer der 29. SS- Division „Waffengrenadiere Italiens“. Der Segen – monatliche Beträge zwischen 500 und 1.500 Mark, je nach Verletzungsgrad – wird global verteilt. Fleißig gezahlt wird nach Angaben der Sunday Times vom 15. Dezember 1996 an 3.377 ehemalige SS-Soldaten in den USA, zumeist eingewanderte Osteuropäer, an 810 in Frankreich, 324 in Belgien, 2.380 in der Slowakei, 1.014 in Rumänien, und 1.010 in Kroatien. Seit die Bundesregierung am 20. November 1996 eine Anfrage der bündnisgrünen Fraktion beantwortete, kennen wir auch exakt die Summe, die nach Großbritannien fließt. Im Jahre 1995 wurden 459 Personen, ebenfalls meistens in Osteuropa gebürtig, insgesamt mit 3.232.554 Mark alimentiert. Wie die Sunday Times weiter berichtete, befinden sich unter diesen 459 Personen zehn ehemalige Mitglieder der Waffen-SS, die 1941 in Kaunas/Litauen an der Ermordung von 8.000 Juden beteiligt waren. Die Bundestagsfraktion der Bündnisgrünen stellte inzwischen eine entsprechende Anfrage an die Bundesregierung.
Vor einigen Tagen verabschiedeten der Bundesverband Information und Beratung in Köln und das American Jewish Committee in Washington einen Appell an die Bundesregierung: „Gerechtigkeit für die Überlebenden des Holocaust in Mittel-und Osteuropa“. Unterzeichnet wurde er von mehr als 1.000 Menschen, darunter von Ignatz Bubis, Jan Philipp Reemtsma, von SPD- und Bündnisgrünen-Abgeordneten, von Organisationen wie Aktion Sühnezeichen und Pax Christi. Sie verlangen verläßliche Monatsrenten, sie verlangen nichts anderes als eine Gleichbehandlung für alle Opfer des Holocaust. Eine weitere Verzögerung der individuellen Entschädigung, so der Appell, „nimmt den Tod dieser Verfolgten in Armut und Bitterkeit in Kauf“. Anita Kugler
Bericht Seite 4
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