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Strategien zur Zerstörung des E Von Carola Rönneburg

E-Zerlatschen war ein aufregendes Spiel. Vier mittelgroße Äste wurden auf dem Sandschulhof in Form eines „E“ zu Boden gelegt, direkt vor den Baum in der Mitte, ein Kreis darum gezogen. Dann hielt sich der Hüter des E – ein per Rotationsprinzip eingesetzter Mitschüler – die Augen zu und zählte bis hundert. Der Rest der Gruppe stob inzwischen auseinander und hetzte in die entlegenen Ecken des rundum bepflanzten Areals, um sich hinter Büschen, Bäumen und Mauern zu verbergen. Geduckt und ganz still verharrten wir in unseren Verstecken, während der Wächter nun mit einem ersten, schweifenden Blick das Spiel eröffnete: Anders als beim Kriegenspielen kommt E-Zerlatschen nämlich ohne Berührungen aus. Es reicht, wenn der Fänger jemanden entdeckt, seinen Namen ruft und (um betrügerische Machenschaften auszuschließen) anhand seiner Kleidung identifiziert.„Thomas im roten Hemd! Hinter der Birke!“

Wer aufgespürt worden war, mußte zum E kommen und galt als Gefangener. War hier erst einmal eine kleine Menge wg. Unvorsichtigkeit oder Kicherns versammelt, wurde es spannend. Jetzt mußte sich der Jäger weiter vorwagen, um die Bestgetarnten unter uns aufzuspüren; vor allem die, die ihre Pullover untereinander getauscht und deshalb rechtmäßig nicht auf Zuruf reagiert hatten.

Und dann schlug die Stunde der Befreiung: Während sich der Feind einem vielversprechenden Gebüsch näherte, pirschte auf der gegenüberliegenden Seite ein unerschrockener Kämpfer durch den Dschungel, wand sich nahezu geräuschlos aus dem Unterholz und flitzte dann todesmutig die letzten Meter ohne Deckung zum Kreis. Zum E, es zu zerstören! Denn das gilt es zu tun: Mit einem kräftigen Tritt das E zerlatschen, so daß die Stöcke in alle Richtungen fliegen – der Bann war gebrochen, die Gefangenen flohen in die Wälder.

Bis das E wieder zusammengesetzt und quasi reaktiviert war, verteilten wir uns neu, und das Abenteuer konnte von neuem beginnen – jedenfalls, bis die große Pause vorbei war. Oder die Freistunde. Oder bis die ersten jetzt aber wirklich zum erkalteten Mittagessen nach Hause gehen mußten.

Wir wurden süchtig nach E-Zerlatschen. Einige von uns brüteten während der Schulstunden nicht über Physikaufgaben, sondern über Strategien. Wir entwickelten Ablenkungsmänover, bei denen in einem Gebüsch besonders heftig rumort wurde, um die Aufmerksamkeit der Wache auf diese Gruppe zu ziehen: Gleichzeitig robbte aus einer anderen Richtung das Befreiungskommando heran. Pullover wurden nicht nur getauscht, sondern zur Vorspiegelung falscher Wollsachen über Zweige drapiert.

Soviel dauerhafte Beschäftigung mit einem einzigen Spiel konnte natürlich den Gleichaltrigen nicht verborgen bleiben. Schon bald kam es zu ersten Verwicklungen mit der Parallelklasse, die nun ebenfalls ihre Kreise zog. Für zwei Gruppen reichten aber die Verstecke nicht aus. Auch kam es immer wieder zu Verwechslungen, weshalb der Posten des Jägers immer unattraktiver wurde. Das Schlimmste aber war, daß die Parallelklasse A-Zerlatschen spielte. A-Zerlatschen! So blöd waren die.

Warum ich das erzähle und ob das ein Gleichnis sein soll? I wo. Ich würde das nur gern einmal wieder spielen.

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