: Gut gewählt
■ Tschetschenien-Wahl: Ein Sieg der Vernunft
Man kann den Tschetschenen gratulieren. Mit Aslan Maschadow haben sie gleich im ersten Anlauf den Kandidaten gewählt, der am ehesten in der Lage ist, den Frieden im Kaukasus zu bewahren. Im Gegensatz zum Geiselnehmer von Budjonnowsk, Schamil Bassajew, dessen Wahl für Moskau eine Provokation und für die OSZE zumindest ein Problem gewesen wäre, ist Maschadow der geeignetste Mann, um das von den Russen zerstörte Land nach außen zu vertreten. Und darum wird es in den kommenden Jahren vor allem gehen.
Angefangen von dem Wiederaufbau der Städte und der Ölindustrie bis hin zu den Verhandlungen über den zukünftigen Status Tschetscheniens wird viel davon abhängen, wieviel Geschick der zukünftige Präsident des Landes im Umgang mit dem Kreml, aber auch den anderen Regionalmächten Türkei und Iran und den europäischen Staaten aufbringt. Es spricht für die Menschen in dem zerstörten Land, daß sie trotz der Greuel, die die russische Armee angerichtet hat, nicht den Helden Bassajew, nicht den Ideologen Jandarbijew, sondern den besonnenen, kompromißfähigen Maschadow gewählt haben. Maschadow weiß, daß die Hoffnung auf Allah und das Glaubensbekenntnis zu einem freien Tschetschenien allein in den kommenden Monaten und Jahren nicht reichen werden. Auch wenn die meisten Tschetschenen es nicht wahrhaben wollen: Einen unabhängigen, souveränen Staat im herkömmlichen Sinne wird es auch 2002 nicht geben. Rußland wird nicht bereit sein, Tschetschenien wirklich ziehen zu lassen, und auch international hat die Begeisterung für staatliche Neugründungen spürbar nachgelassen.
So gibt es wohl nur zwei Möglichkeiten. Beharrt jede Seite auf ihrer Maximalposition, bleibt alles erst einmal beim Status quo: de facto unabhängig, de jure Provinz Rußlands, also ohne internationale Anerkennung und nur so lange, bis Rußland sich wieder stark fühlt. Die Alternative ist ein formal anerkannter Status knapp unter der Grenze voller Souveränität. Mit ein bißchen Autonomie brauchen und werden die Tschetschenen sich nicht zufriedengeben. Wie in Palästina, wie in Berg-Karabach und in Abchasien geht es um die Entwicklung eines neuen völkerrechtlichen Subjekts. Maschadow könnte dies erreichen. Jürgen Gottschlich
Bericht und Porträt Seiten 8 und 11
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen