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Ausgerechnet Franz!

Helmut Schön deutet auf mich. „Warm machen. Umziehen – geh rauf, geh rechts!“ Ich rieche links Löhr. Gleich würden sie mich erdrücken vor Begeisterung  ■ Ein Traum von Albert Hefele

Es müßte später Nachmittag sein in meinem Traum. Ein Land im Süden. Die Luft wäre sehr warm, aber immer wieder angenehm gekühlt von einem leichten Wind. Das Stadion dürfte nicht zu groß sein – es könnte um die 60.000 Zuschauer fassen – das genügt. Unter keinen Umständen weniger. WM-Halbfinals werden nicht in kleineren Stadien gespielt. Über dem Spielfeld der Schatten des späten Sommernachmittags, nur die Gegentribüne läge noch in der Sonne. Ich würde die Zuschauer als farbige, sich scheinbar ziellos bewegende Flecken wahrnehmen. Von meinem Platz aus. In meinem Traum.

Mein Platz wäre noch in dem langen Gang, der von den Umkleidekabinen zum Spielfeld führt. Grauer, kühler Beton in der Hitze des Nachmittags. Die Stollen klackern unangenehm laut. Es riecht penetrant nach Schweiß. Dem ganz eigentümlich scharf und fremd riechenden Schweiß, den manche Männer absondern.

Das steigt scharf in die Nase. Eine Ausdünstung, die mich an die Ponyreitbahn von früher erinnert. Ich würde nicht so riechen. Mein Schweiß riecht nicht sehr. Außerdem bin ich nur Ersatzspieler. Ich hatte durchaus keine schlechte Saison, aber Wolfgang ist momentan einfach sehr gut. Außerdem hat er einen linken Fuß. Und auf meiner Position spielt, na ja – Franz Beckenbauer. Ich kann sein Trikot mit der Nummer 4 sehen, wie es sich nach oben bewegt, die Stufen zum Spielfeld hoch. Wenig Chancen, einen solchen Mann zu verdrängen. Obwohl ich acht Tore gemacht und ein reelles Angebot von Bologna abgelehnt habe diese Saison. Aber Wolfgang ist einer, der seine Pfründe verteidigt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Helmut Schön den Mumm aufbringt und ihn rausnimmt.

Gerd Müller drängt sich an mir vorbei. Kein Tor gemacht in der ersten Halbzeit. Auf den Rängen beginnen sich die Fahnen zu rühren wie Blumen in einer leichten Brise. Wir Ersatzspieler haben kaum richtig Platz genommen, da legen die Azzuri schon mächtig los. Seltsam, wie viele große Spieler die Italiener in der Mannschaft haben. Dabei heißt es immer, der Italiener ist klein von Natur aus. Weil ihm seine Mutter gesagt hat: „Wenn du groß bist, mußt du schaffen...“, den hat der Grabi erzählt.

Der Boninsegna ist einer, auf den man aufpassen muß. Da ist unser Willi einfach zu langsam. Was soll der Schnellinger machen? Er muß ihn umhauen. Gott sei Dank gerade noch vor dem Sechzehner. Trotzdem greift sich Helmut Schön an seinen großen Kolben und riecht nervös an den Fingern. Fast meint man, seine Basedow- Augen würden noch eine Idee mehr herausquellen. Masseur Deuser ist auch aufgeregt und muß aufpassen, daß er sich nicht die sorgfältig nach vorn gebürsteten Haare zerwühlt und man seine Glatze sieht.

Riva läuft an, und eigentlich weiß ich schon nach den ersten drei Schritten, daß der Ball drin ist. Wenn es möglich wäre, einen Ton wie ein Standbild einzufrieren, könnte man beweisen, daß in dem Augenblick, bevor der Schütze den Ball trifft, im Stadion absolute Stille herrscht. 60.000 Menschen ziehen die Luft ein, halten den Atem an. Eine tausendstel Sekunde später wäre das flache scharfe Geräusch der übers Gras sensenden Stollen zu hören und das stumpfe „Wopp“, wenn der Schuh auf den Ball trifft.

Erst jetzt, wenn der Ball in der Luft ist, schon auf dem Weg über die Köpfe der ihn mit panisch aufgerissenen Augen verfolgenden Abwehrspieler, zieht er das zum Toben anschwellende Stöhnen der Menge wie einen akustischen Schweif hinter sich her. Und lange bevor er mit einem kühlen, abrupten Geräusch das Netz beult, wissen alle, daß das ein Tor ist. Willi Schulz, Höttges, der winzige Vogts und Masseur Deuser, der sich „schnell, schnell“ wieder die Haare in die Stirn bürstet.

Helmut Schön ist aufgesprungen und macht zwei zaghaft unbeholfene Schritte in Richtung Spielfeldrand. Er wirft seine langen Arme anklagend von sich und verzieht das Gesicht. Böse soll das aussehen. Es interessiert aber keinen. Patzke ist auch aufgesprungen, weil sich das so gehört. Jetzt geht er zur Bank zurück und sieht ganz zufrieden aus: „Das hat er jetzt davon.“ Hätte er ihn nicht rausgenommen.

Unsere rennen eine Zeitlang wie wild auf das Tor von Albertosi zu. Uwe wühlt sich förmlich in die Abwehrspieler! Das sieht vielleicht aus.

Breitbeinig kreiselt Müller Gerd. Franz schlenzt die Bälle, aber wir verlieren die Zweikämpfe. Wenn man zur Ersatzbank der Italiener hinüberschielt, sieht es aus wie früher auf dem Jahrmarkt im Kasperletheater. Da hechten ständig alle Mann hinter dem Regendach hervor. Schütteln sich gegenseitig vor Begeisterung oder aus Verzweiflung. Zappeln dahin und dorthin und schreien sich an, als ob man stocktaub wäre. Der Trainer hat das graue Haar hoch aufgewölbt und sieht aus wie Vittorio de Sica. Er raucht zwei Schachteln pro Halbzeit. Wie es passiert ist, hat keiner so richtig mitgekriegt. Jedenfalls nimmt der Franz einen Ball, den ihm der Berti vorgelegt hat, ziemlich nachlässig an.

Er denkt, er hat nichts zu befürchten in Höhe der Mittellinie; unsere Spitzen haben keinen Meter Platz, und jetzt riskieren die anderen keinen Zweikampf, weil, gegen den Beckenbauer kann man leicht alt aussehen: Der rochiert locker um das Ei und schiebt einem das Ding durch die Beine, bevor man sich umschaut. So denken alle und auch der Franz. Nur nicht Burgnich, der eigentlich so weit vorne gar nichts zu suchen hat und, nur um seinen Rückzug zu sichern, den Ballführenden rasch umtreten will, daß der nicht in die Lücke spielen kann. So kommt es, daß der Franz plötzlich auf dem Rasen liegt, was er höchstens in der Badeanstalt freiwillig macht, und hält beidbeinig den schmalen Knöchel. Sogar die Kiefer mahlen im Schmerz!

Deuser und Schön springen auf und falten die Hände wie alte Weiber. Sogar Patzke ist etwas erschrocken. Ich bin auch aufgesprungen. In der Magengegend wird es heiß und bleiern. Unwillkürlich beginne ich, die Flexoren zu dehnen. Der Franz wird vom Platz geführt. Patzke muß ihn stützen. Dahinter mit fahrigen Handbewegungen Helmut Schön. Er setzt seine Mütze auf und ab. Auf und ab. Ein gebrochener Mann. Unentschlossen schlurft er hin und her, dann deutet er endlich auf mich: „Warm machen. Umziehen – geh rauf, geh rechts, paß auf den de Sisti auf. Versuch ... ach du lieber Gott! Ausgerechnet der Franz!“ Und läßt mich einfach stehen.

Ich hacke mit den Stollen in den Rasen. Kontakt zum Geläuf suchen, nennt man das. Von links blickt Wolfgang Overath kurz und verächtlich herüber. Gleich würde er ausspucken. Ich würde aber bloß grinsen – in meinem Traum.

Ich ziehe probeweise einen lockeren Sprint an. Ich bin leicht heute. Idealer Schwerpunkt. Jemand keucht hinter mir. Aus den Augenwinkeln ist ein zerzauster Italiener zu erkennen. De Sisti. Er nuschelt was in meine Richtung und bemüht sich, furchteinflößend zu schauen. Zum Lachen ...

Vorne Ballverlust. Wolfgang ist schon überlaufen, er hat keine Lust mehr zu arbeiten, für ihn ist das Spiel abgehakt. Noch fünfzehn Minuten, einsnull hinten und der wichtigste Mann im Mittelfeld draußen. Feierabend. Er spuckt aus. Höttges kann klären, und der Ball springt quer zu Schnellinger, der ihn – attentione! attentione! – zum Bayern-Sepp zurückspielt. Er kennt schließlich seine Pappenheimer.

Maier ist sauer. Und wie. Er tippt das Ei fast gewalttätig auf und scheucht seine Leute wie lästige Fliegen aus dem Strafraum. Hoher Abschlag! Der kommt weit durch den warmen blauen Abendhimmel! Weit auf meine Seite! Das ist schön. Ich trabe dem schnell näher kommenden Leder entgegen. Gehört mir! Hinten hechelt es. Irgend was zieht an meinem Trikot. Jetzt ist der Ball da. De Sisti will an mir vorbei. Ich drehe mich lässig mit ihm – immer den Ball abdecken – und ssoppp! Da liegt er. Wie an den Innenrist geschmiedet.

Der Blaue stochert von hinten und zwickt wie ein Schwuler; aber er kommt nicht durch. Im Gegenteil: ich spiele einfach mit der Fußspitze auf den uns erstaunt beobachtenden Overath. Rasche Drehung unter dem halb auf mir liegenden Itaker durch, und schon liegt der flach. Ich trete sofort an, und im Durchstarten sehe ich zwanzig Meter vor dem Tor den Müller Gerd wittern. Breitbeinig, den dicken Popo gegen die Verteidiger gereckt, fährt er die kurzen Arme aus. Jetzt kommt uns Uwe Seeler entgegen, Facchetti ist ihm auf den Fersen. Er ist unentschlossen, wittert die Gefahr. Sein Instinkt sagt ihm, daß er mich beachten muß. Overaths Anspiel auf Uwe kommt. Halbhoch mit dem schwachen rechten Fuß. Schwer zu kontrollieren.

Seelers ganze Routine kommt nun zum Tragen. Er versucht ihn erst gar nicht zu stoppen, weil er Facchetti in seinem Rücken weiß. Hält nur den Innenrist hin und läßt die Kugel in den freien Raum vor mir prallen. Ich weiß, nein, ich spüre, wie der Ball auf mich zuläuft. Ich könnte die Augen schließen. Ich habe noch viel Zeit.

Ich sehe, wie Overath festhängt, wie Müller versucht, die Verteidiger von sich wegzudrücken, wie Burgnich klammert. Und ich rieche ganz links Hennes Löhr.

Hinter mir höre ich jetzt wieder wen keuchen. Das ist mein Kumpel de Sisti. Er ist auf dem Weg zu mir und meinen Knöcheln, will mich umtreten. Wegen Rache. Ich sollte mich sputen. Ganz links drüben beschleunigt Löhr etwas und löst sich von der Außenlinie Richtung Strafraum. Ich kann ihn aber noch nicht anspielen. Ich müßte hoch in den Strafraum, über den langen Facchetti weg weit nach links flanken. Kein Problem für Albertosi ... da öffnet sich – wie von Zauberhand – die Lücke! Uwe, der Fuchs, hat sich blitzartig nach rechts gelöst. Seinem Mann bleibt keine Zeit zu überlegen, er muß ihm nach, sehen, was das soll.

Ich setze die Flanke an, mit leichtem Schnitt nach innen, zwischen den Blauen um Müller und der Overath-Gruppe hindurch. In den Raum links vom Elfer. Jetzt hat Albertosi Löhr entdeckt. Er schreit und schreit und zeigt und sagt, wer schuld hat, und rauft sich noch schnell die Haare. Alles zu spät. Mein Azzuro rennt mich um, aber noch im Fallen sehe ich den Ball in einer prima leicht ansteigenden Kurve mit sanftem Linksdrall vor dem Hintergrund der tausend farbigen Punkte in den Sechzehner segeln, durch die warme Luft eines ausverkauften Stadions in einem südlichen Land.

Dann würde ich das Gras riechen und sehen, wie Albertosi und der lange Facchetti (viel zu groß für einen Italiener) panisch den Weg des Balles verfolgten, wie von einem Zauber gebannt und hilflos in der Bewegung erstarrt. Und dann wäre in der tausendstel Sekunde Stille zu hören, wie Hennes Löhrs Spann das Leder satt träfe und das Geräusch zu hören, das eine sehr schnell fliegende Kugel verursacht, in der Sekunde, bevor sie knapp unter der Latte im Tor der Italiener einschlägt.

Gleich würden sie mich erdrücken vor Begeisterung – in meinem Traum. Aber ich hätte noch die Zeit, um zu unserer Betreuerbank hinüberzuschielen, wo gerade Helmut Schön ungeschickt versuchte, seine Mütze in die Luft zu schleudern, während sich Masseur Deuser hastig das Deckhaar über der Glatze ordnen würde.

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