: Kinderarbeit: Vom Mißbrauch eines Mißbrauchs
■ Kanthers Visumpflicht richtet sich angeblich gegen Schlepper. Doch in Wirklichkeit werden viele Familien getrennt und illegal lebende Kinder ausgesiebt
Familie Yilmaz* aus Berlin ist in heller Aufregung. Weil die neue Visumpflicht eine aufenthaltsrechtliche Kettenreaktion auslöst, muß die Familie am Ende wahrscheinlich Deutschland verlassen. Und das, obwohl Emine Yilmaz seit zehn Jahren hier lebt. Obwohl eines ihrer beiden Kinder hier geboren wurde. Obwohl ihr Ehemann Ali legal eingereist ist.
Wie kommt es? Ali Yilmaz, so steht es in den ausländerrechtlichen Vorschriften, bekommt nur dann eine Aufenthaltserlaubnis, wenn das Einkommen des Ehegatten, in seinem Fall der Frau, zur Ernährung der Familie ausreicht. Seine Ehefrau, so rechnet ein Sachbearbeiter der Berliner Ausländerbehörde nach einer Amtstabelle aus, müsse ein Nettoeinkommen von 2.688 Mark nachweisen – bei zwei Kindern und einer Monatsmiete von 1.000 Mark.
Doch als ungelernte Arbeitskraft verdient Emine nur 1.700 Mark monatlich. Erste Folge: Ihr Ehemann erhält irgendwann die Aufforderung zur Ausreise und muß zurück in die Türkei. Zweite Folge: Das hier geborene Kind darf zwar bleiben, weil die Mutter eine Aufenthaltserlaubnis hat, das in der Türkei geborene Kind aber muß gehen.
Die Ausländerbehörde verweist darauf, daß es laut neuem Gesetz nur dann hier bleiben darf, wenn beide Eltern dauerhaft hier leben. Oder wenn sie geschieden sind und der hier lebende Elternteil das Sorgerecht hat. Oder wenn die Kinder Halbwaisen sind. Dritte Folge: Die Familie wird auf Dauer getrennt. Wenn Emine das nicht will, muß auch sie gehen.
Tausende von Emines und Alis wird es in nächster Zeit wohl so ergehen. Jedenfalls dann, wenn der Bundesrat binnen drei Monaten Kanthers Verordnung zustimmen muß. Und das ist fast sicher: Die SPD-Landesregierungen von Niedersachsen und Saarland kündigten ihr „Ja“ bereits an.
Den dann einsetzenden Exodus, so glaubt die Berliner Ausländeranwältin Maria Wilken, habe der Bundesinnenminister bewußt auslösen wollen. Kanthers Begründung für seine Maßnahme, man müsse kriminellen Schleppern das Handwerk legen, hält sie für „totalen Quatsch“. „Eben weil türkische Kinder bisher kein Einreisevisum nötig hatten, brauchten sie auch keine Schlepper. Eine Tante oder ein Nachbar, die ein Kind zu seinen Verwandten in Deutschland begleitet haben, ist doch kein Schlepper im kriminellen Sinne.“
Auch Kanthers zweites Argument, sein Verweis auf die steigende Anzahl von allein hier einreisenden Jugendlichen, hält sie für völlig überzogen: „Das waren im letzten Jahr genau 2.068, 1.300 von ihnen wurden zudem von ihren Verwandten empfangen. Und dafür müssen jetzt rund 800.000 Kinder büßen.“ Denn durch Kanthers Verordnungstrick werden alle hier lebenden Kinder türkischer, exjugoslawischer, marokkanischer und tunesischer Abstammung gezwungen, sich bis Jahresende eine Aufenthaltsgenehmigung zu beschaffen, wenn sie nicht Probleme an jeder Grenze oder bei jeder U-Bahn- Kontrolle bekommen wollen. „Auch das“, glaubt die Rechtsanwältin, „hat der Innenminister so gewollt. Es geht darum, die hier ,unberechtigt‘ lebenden Kinder systematisch auszusieben.“
Dabei wird wohl auch so manche böse Sumpfgeschichte offenbar. Ausländeranwälte wissen von Fällen, in denen minderjährige Nichten oder Mädchen mit gleichlautendem Familiennamen als angeblich leibliche Kinder nach Deutschland geholt wurden, um eine „Putze“ für Haushalt oder Dönerstand oder gar ein sexuell gefügiges Objekt zur Verfügung zu haben. Wie viele solcher Kinder hier illegal leben, manchmal ohne jemals eine Schulstunde oder gar eine Ausbildung zu erhalten, weiß niemand. Solche Mißbrauchsfälle waren denn auch ein Grund für die Berliner Ausländerbeauftragte Barbara John (CDU), sich für die Visumpflicht stark zu machen. Alle Kinder, deren beide Elternteile hier dauerhaft leben, bekommen „ohne Umstände eine Aufenthaltserlaubnis erteilt“, versuchte sie die empörten Türken und Türkinnen in Berlin in den letzten Wochen wieder zu beruhigen. Auch diejenigen, die hier geboren wurden und bei einem Elternteil leben, hätten keine Schwierigkeiten zu erwarten. Doch was ist mit denjenigen, die hier seit 14 Jahren bei der Oma leben? Die als Zweijährige zum Vater nach Berlin gebracht wurden, seitdem hier aufwachsen und die Türkei so gut wie nicht kennen? Die in der einen oder anderen Weise mißbraucht wurden? Die straffällig wurden? Nach der neuen Rechtslage müßten sie allesamt gehen.
„Es gibt Indizien dafür, daß bestimmte politische oder kriminelle Organisationen strafunmündige Kinder hierher bringen, um sie für Drogenverkauf oder Prostitution auf den Markt zu schicken“, sagt Safter Çinar, Sprecher vom Türkischen Bund Berlin/Brandenburg. „Es ist allerdings die Frage, ob Innenminister Kanthers Maßnahme geeignet ist, diesen Mißbrauch zu bekämpfen.“ Denn wer Mißbrauch betreiben wolle, „der wird das auch weiterhin tun“.
Eine Debatte darüber findet in der deutschsprachigen Öffentlichkeit nicht statt. Doch wann, wenn nicht jetzt, wäre ein besserer Zeitpunkt, sich damit auseinanderzusetzen? Vergessen oder nur nebenbei erwähnt werden die vielen, vor allem weiblichen Minderjährigen, die von Verwandten oder Bekannten als Kindermädchen oder Haushaltshilfen hierher geholt werden. In der Türkei gibt es eine offizielle Schulpflicht nur bis zur fünften Klasse. Da Mädchen keinen Militärdienst ableisten müssen, wird ihr Verbleib ab dem zwölften Lebensjahr von der türkischen Behörde nicht mehr kontrolliert. Eine fingierte Einladung nach Deutschland, ein Erlaubnisschreiben der Eltern zur Vorlage bei den türkischen Zollbehörden reicht aus, um das Mädchen als Haushaltshilfe nach Deutschland zu holen.
Ihr Aufenthalt hier war illegal, doch wer wußte schon davon? Nicht jedem dieser Mädchen mußte es hier schlecht ergehen. Oft war es sogar eine Verbesserung der Lebenslage. Und die „Hausherren“ in Deutschland haben kein Unrechtsbewußtsein, praktizieren sie doch nur das, was in der Türkei oft als Hilfe für die arme „Verwandtschaft“ angesehen wird. Der illegale Aufenthaltsstatus in Deutschland macht diese „Haushaltshilfen“ jedoch zu willfährigen Ausbeutungsobjekten ohne jegliche rechtliche Absicherung. Ein Schulbesuch verbietet sich von selbst, würde doch dadurch der hiesige Aufenthalt aktenkundig. Auch nach der neuen Verordnung wird sich an der Situation der bereits hier arbeitenden minderjährigen Haushaltshilfen nichts ändern, da sie durch ihren illegalen Status und der Furcht vor Abschiebung zur Ausländerbehörde nicht gehen werden und können.
Aber Minderjährige werden nicht nur nach Deutschland geholt. Fehlende Kindergartenplätze, Abneigung gegen diese Einrichtungen in Deutschland sowie die Arbeitsbelastung der Eltern veranlassen diese, die eigenen Kinder in umgekehrte Richtung zur Verwandtschaft in die Türkei zu schicken. Viele dieser Kinder pflegen die Großeltern oder gehen der Verwandtschaft in der Türkei kräftig zur Hand. Eine laxe Kontrolle der Einhaltung der Schulpflicht sowie des Verbots von Kinderarbeit wirken sich in einem Land mit großem sozialen Gefälle wie der Türkei eher negativ auf die Situation der Kinder aus. Spätestens mit 16 Jahren nach Ende der Schulpflicht in Deutschland und kamen diese Kinder wieder zurück nach Deutschland.
„Es ist Sache der Eltern zu entscheiden, ob die Kinder mal hier oder mal in der Türkei zur Schule gehen, das sollte man akzeptieren, vielleicht kritisieren, aber nicht mit einer politischen Entscheidung erzwingen“, meint Bahattin Kaya, ebenfalls Sprecher des Türkischen Bundes.
Nach Schätzungen des Türkischen Bundes in Berlin/Brandenburg gehen allein aus Berlin fast 4.000 Kinder in der Türkei zur Schule. Die Gründe dafür sind vielfältig. Unzufriedenheit mit dem deutschen Schulsystem: zu antiautoritär, zuwenig Bezug zur türkischen Kultur, Fehlen der türkischen Sprache, Fehlen des Islam und dadurch Entfremdung der Kinder von den eigenen Sitten und Gebräuchen oder einfach nur Angst vor dem Abrutschen des Kindes in die Sonderschule aufgrund mangelhafter deutscher Sprachkenntnisse. Kommen diese Kinder dann mit 16 Jahren zurück nach Deutschland, ist die Chance der beruflichen und gesellschaftlichen Integration gering. Ute Scheub (taz)
Claudia Dantschke, Ali Yildirim (Redakteure des Berliner Lokalsenders AYPA-TV)
* Namen geändert
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