: Im Gleichrichterwerk
Zwischen Exklusivität und Sozialfall: Wohnen im Industriedenkmal am Beispiel der Bastianstraße 6. Teil VII der Serie „Wie gewohnt?“ ■ Von H. W. Hoffmann
Was für ein Auftritt! Inmitten einer Weddinger Seitenstraße – plötzlich eine klare Front. Wo sich die umliegenden kleinbürgerlichen Mietshäuser in einem Gemenge aus Giebeln, Erkern und Balkönchen verlieren, stürmt eine Fassade in wenigen Schritten bis zur Traufe. Bastianstraße 6: Sechs riesige Glasfelder, eingefaßt von einem glatten, weiß verputzten Wandvorsprung, gehalten von schwerem, rauhem, dunkelviolettem Brandstein und bekrönt von einer schlichten Balkonplatte mit durchlaufendem Gitter.
Hinter dieser Fassade verwandelten seit 1930 sechs Transformatoren und drei Großgleichrichter die 6.000 Volt, 50 Hertz Drehstrom der Berliner Elektrizitätswerke AG in 780 Volt Gleichstrom. Zusammen mit den Umformwerk in der Dircksen- beziehungsweise Hermannstraße speiste das Haus in der Bastianstraße die damals gerade fertiggestellte U-Bahn-Linie zwischen Gesundbrunnen und Hermannplatz, ermöglichte den Zügen auf dem Streckenabschnitt nördlich der Bernauer Straße einen Zweiminutentakt.
Das Gebäude war das letzte Werk von Alfred Grenander, der seit 1899 über 70 Stationen, Viadukte und Betriebsgebäude entwarf und wie kein zweiter die Gestalt der Berliner U-Bahn prägte. An einem Ort, der besondere Anstrengungen keineswegs herausforderte, gab sich Grenander nicht damit zufrieden, den zeitgenössischen technischen Anforderungen zur Aufstellung elektrischer Anlagen zu genügen. Er packte die Transformatoren, Gleichrichter und Ölschalterzellen nicht einfach in eine banale Kiste, sondern fügte sie in ein städtisches Gebäude: in ein Vorderhaus mit Seitenflügel. Nur eine Seilwinde, mit der die tonnenschweren Gleichrichter bis ins zweite Obergeschoß schwebten, sechs schwere Stahltore und Laufschinen im Hof verrieten, welche Kräfte hinter der metropolitanen Fassade walteten.
Mitte der siebziger Jahre wurde das Umformwerk für die BVG aus technischen Gründen überflüssig. Die Qualitäten des Bauwerks, seine selbstbewußte Erscheinung im Straßenraum und die großzügigen Hallen, veranlaßten den Landeskonservator, den Abriß zu verhindern sowie Fassade und Innenleben unter Schutz zu stellen. Doch auch der beste Denkmalschutz vermag auf Dauer nicht, nutzlose Hüllen zu erhalten. Dem Bezirk fehlten damals schon die Mittel, das Haus für eine öffentliche Nutzung umzubauen, der Senat verspürte angesichts der Randlage kein öffentliches Interesse. Fördermittel versprach allein der Soziale Wohnungsbau: Aus dem Umspannwerk mußte ein Wohnhaus werden.
Aber wie? Leicht ließen sich die Räume im Erdgeschoß umnutzen. Wo einst die Transformatoren summten, befinden sich heute Garagen. Darüber machte es die Raumhöhe von 4,60 Meter schlicht unmöglich, zwei ausgewachsene Aufenthaltsräume übereinanderzustapeln, deren lichte Höhe mindestens 2,50 Meter hätte betragen müssen. Deshalb versuchten die mit dem Umbau beauftragten Berliner Architekten, Hinrich und Inken Baller, auch gar nicht erst, die Hallen mit konventionellen Wohnungen zu füllen: Ihr Ideal war vielmehr die offene Wohnlandschaft.
Um den Fabriketagencharakter soweit wie möglich zu erhalten, behielt im Vorderhaus jede Maisonette eine Wohnhalle von zwischen 40 und 50 Quadratmeter mit voller Höhe. Um diesen zentralen Bereich gruppieren sich nicht die üblichen, geschlossenen Zellenzimmer. Statt dessen erweitern Emporen die Wohnfläche. Freistehende Küchenzeilen ersetzen den traditionellen Hauswirtschaftsraum, Schlafgalerien die konventionellen Kammern mit Doppelbett. Der Blick zur Wohnhalle läßt leicht verschmerzen, daß diese Raumteile kaum höher als zwei Meter sind.
Gut zwanzig Jahre nach dem Umbau haben die Grundrisse eine ganz eigene Art des Bewohnens provoziert. Mehrheitlich wird die Bastianstraße 6 von kinderreichen Familien bewohnt. Sie denken gar nicht daran, ihre Wohnhallen nur für eine bestimmte Funktion oder Person zu reservieren. Den Großraum nur als gutbürgerlichen Repräsentationsraum zu nutzen ist schlicht unmöglich.
Falttüren vor den Schlafgalerien stellen das Maxium an Privatheit da. Zwischen Eßtisch und Sofa steht eine Werkzeugbank. Zwischen Galerie und Gummibaum spannen sich Wäscheleinen. Eigene und fremde Kinder verwandeln die Wohnhalle in eine Spiellandschaft, wie sie weder Hof noch Straße bieten können. Schon reißt ein an einer Strickleiter durch den Raum schwingendes Familienmitglied im Überschwang die ehrfürchtig gerahmte Koransure von der Wand. Der Großraum ist ein Terrain voller Fallstricke. Konflikte müssen entstehen und ausgetragen werden, Autorität sich ständig neu bestätigen. Das schweißt zusammen, schafft Gemeinschaft, belastbar bis zur Unerträglichkeit. Der Großraum ist im wahrsten Sinne des Wortes Schau-Platz dessen, was Familie ist. Durch die großen Fenster wird der Passant zum Zeugen dieses Schauspiels, ohne, den maßgefertigten Jalousien sei dank, seine Geheimnisse so recht durchschauen zu können.
Doch nicht das Familienleben gefährdet die Wohnwirklichkeit der Bastianstraße. Drei der neun Wohneinheiten stehen leer. Die Hausverwaltung sucht zum Teil schon über sechs Monate nach neuen Mietern. Nicht jede Familie träumt von einer offenen Wohnlandschaft. Noch schwerer ist es, Bewohner zu finden, die beim Einzug so wenig Einkommen haben, daß sie einen Wohnberechtigungsschein mitbringen, danach aber in der Lage sind, die Miete selbst zu bezahlen. Die aus dem Umbau geschuldete Zinslast hat die Miete weit über das heute im sozialen Wohnungsbau verträgliche Maß steigen lassen. Und das Bezirksamt weigert sich nach Angaben der Hausverwaltung, neue Mieter zu bezuschussen. Begründung: Die Grundrisse seien nicht förderungswürdig. Sie bieten zuviel Fläche und zuwenig Räume.
Eine 120 Quadratmeter große Maisonette gilt nach der Berliner Bauordnung letztlich nur als Dreiraumwohnung, würde sie an einen Dreipersonenhaushalt vermietet, verfügte jeder Bewohner über weit mehr Fläche, als ihm der soziale Wohnungsbau zugestehen mag. Was vor zwanzig Jahren die einzige Möglichkeit war, das Bauwerk zu retten, erweist sich heute als Zwangsjacke.
Überlegungen, die Wohnungen als Ateliers zu nutzen oder an Wohngemeinschaften oder solvente Ehepaare zu vermieten, scheiterten bisher an der Weigerung des Bezirksamts, die Sozialbindung vorzeitig aufzuheben. Doch könnte diese Maßnahme allein die Vermietbarkeit garantieren? Der Wedding gilt gemeinhin nicht als Traumlage der anvisierten Zielgruppe. Zugleich ist der Ausbaustandard des Gebäudes niedrig, der Zustand schlecht: Die Küchenzeilen bestehen oft nur aus einer Ansammlung abgewohnter Einzelmöbel. Mehr als Linoliumkacheln war damals für die Böden nicht drin, und selbst die lösen sich heute aus ihrem Klebebett. Die Eigentümergemeinschaft hat weder Geld noch Veranlassung zu investieren.
Nach Angaben der Hausverwaltung droht die Zwangsversteigerung. Ein herausragendes Industriedenkmal und neun exklusive Wohnungen stehen vor einer ungewissen Zukunft.
Teil VIII der Serie „Wie gewohnt?“ erscheint am 8. März: Herrschaftlich Wohnen
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