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Glashäuser sind nicht gleich Demokratie

Ein Leben mit allerlei Abstürzen: Bruno Flierl, der renommierteste Architektur- und Stadttheoretiker der DDR, galt als gefährlich, staatsfeindlich und klassenfremd. Am Sonntag wird der Ostberliner Kritiker siebzig Jahre alt  ■ Von Wolfgang Kil

Noch immer kommt Spannung in jedem Auditorium auf, sobald er ans Mikrophon tritt, um einen seiner scharfen und stets druckreif formulierten Kommentare abzugeben. Bruno Flierl war der namhafteste Architektur- und Stadttheoretiker der DDR, zugleich ausdauerndster Kritiker der SED- Baupolitik und in dieser heiklen Position schon frühzeitig so etwas wie eine verläßliche Instanz: An ihm und seinen provokanten Thesen kam in der DDR kein engagierter Architekt vorbei. Noch heute lassen sich viele seiner Freunde und damaligen Schüler die Architekturwunder Chicagos, Brasilias oder Singapurs lieber von ihm zeigen als von irgendwelchen routinierten Reiseprofis. Da ist ein bißchen kollegiale Nostalgie im Spiel, vor allem aber das Bedürfnis nach einem Stück kulturellen Konsens. Was und wie man im Osten über Planen und Bauen dachte, hatte stets auch eine Wurzel in seinen unermüdlichen Predigten: Architektur ist immer nur so gut wie die Gesellschaft, in der sie entsteht.

Aufgewachsen in Schlesien, nach Kriegsdienst und Gefangenschaft Berliner geworden, begann Bruno Flierl 1948 an der Hochschule für bildende Künste in Charlottenburg Architektur zu studieren. Mit fünfundzwanzig und noch vor dem Diplom wechselte er in den Ostteil der Stadt, um „aus Begeisterung für die Verheißungen der sozialistischen Alternative“ an der Ostberliner Bauakademie theoretische Forschungen aufzunehmen. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, die zukunftsweisenden Ideen des Sozialismus von der rückwärtsgewandten Verirrung der stalinistischen Baudoktrin zu befreien: Eine moderne Gesellschaft war ihm ohne moderne Architektur nicht vorstellbar.

Auf den Erfolg solcher Hoffnung mußte er jedoch warten, bis Chrustschow 1954 in Moskau die große baupolitische Wende ausrief. Nun wurde anstelle der formalästhetischen Überfrachtung die Industrialisierung des Häuserbaus zum Programm erhoben. 1962, noch mitten in jener kulturellen Umorientierungsphase, wurde Bruno Flierl Chefredakteur von Deutsche Architektur, der einzigen Architektur-Fachzeitschrift der DDR. Vom „Tauwetter“ beflügelt, suchte er das proklamierte Neue nicht nur in den Innovationen der Bautechnologie, sondern auch in einer Demokratisierung der Planungsprozesse. Er veröffentlichte kritische Analysen über die Neubebauung Unter den Linden, zettelte Fachkontroversen an, machte sich stark für kommunale Planungshoheit und Mitspracherechte der Bürger bei der Gestaltung ihrer Städte. Keine drei Jahre später war er den Posten in der Redaktion wieder los.

So leicht war er nicht abzuschütteln: „Wenn man sich mit einer Sache stark identifiziert, ist man bei aller kritischen Sicht immer wieder bereit, sich konstruktiv einzubringen. Wie das mit den tatsächlichen Machtverhältnissen war, habe ich damals noch nicht durchschaut.“ Er fing wieder mit theoretischen Forschungen an, übernahm Ämter, hielt Vorträge, ließ sich von Hermann Henselmanns bombastischen Superzeichen faszinieren. Doch die Kurve aus zähem Emporarbeiten und jähen Abstürzen schlingerte weiter. 1971 wurde er eine Stunde vor der Verteidigung seiner Dissertation nach Hause geschickt: Seine Abhandlung über „Industriegesellschaftstheorie im Städtebau“ sei ein gefährlicher, konvergenztheoretischer, „klassenfremder“ Text. Überarbeiten! Ein Jahr später promovierte er doch, sieben Jahre später Habilitation und endlich eine Chance, die politisch rüde gegängelte Bauakademie hinter sich zu lassen: Er wurde an die Humboldt-Universität berufen als Dozent für Architektur- und Städtebautheorie.

Die Erholungsphase währte nicht lange. 1981 prangerte er auf einer Tagung die feudale Planungswillkür der Parteifürsten an und machte sich nebenbei über die postmodernen Attitüden der jüngsten Ost-Berliner Repräsentierbauten lustig: Anstelle wirklich neuer Architekturkonzepte würden dort nur die alten stupiden Kisten mit ornamentalen Fassadenkleidern behängt. Dieses Referat, Monate später halboffiziell publiziert, weckte die Wut seiner Intimfeinde aus dem Apparat: „Konterrevolutionär, staatsfeindlich, parteischädigend!“ Flierl verlor alle Funktionen im Berufsverband, sein nächster Aufsatz, bereits gedruckt, wurde aus dem Verkehr gezogen, die Stelle an der Universität geriet ins Wanken... Da erlitt er, siebenundfünfzigjährig, einen Schlaganfall. Seither nennt er sich, etwas spöttisch, Privatwissenschaftler. Als nach der „Wende“ Planer aus Ost und West über das zu vereinigende Berlin debattierten, war Bruno Flierl dabei: „Ich liebe diese Stadt, und außerdem war mir der Westen durch verschiedene Reisen schon nicht mehr so fremd.“ Daß in dieser spontanen Hektik des „Handlungszwanges“ alle Hoffnungen auf eine dem Gemeinwohl verpflichtete Baukultur untergingen, diese Ernüchterung stellte sich erst später ein. Von da ab wurde es ruhiger um ihn. Die Akademie der Künste mochte sich für seine dialektische Skepsis nicht erwärmen. Die Bonner Enquetekommission bestellte einen Bericht über das Bauwesen der DDR, doch der wanderte unangehört ins Protokoll.

1993 nahm Bruno Flierl noch einmal einen „offiziellen“ Auftrag an: Gemeinsam mit Walter Rolfes erstellte er ein Gutachten zum Pariser Platz, das heute noch immer zitiert wird, wenn es um die rigiden Gestaltvorschriften in Berlins historischer Mitte geht. „Ich bin auch gegen den Behnisch-Entwurf, weil diese Glas-Metapher in die Irre führt. Eine Kunstakademie ist so offen und demokratisch wie ihre Mitglieder, nicht wie ihr Haus.“ Die Begründung leuchtet ein, und doch klingt sie, nach solch widerborstigem Leben, seltsam matt. „Wie soll ich mich noch Architekturtheoretiker nennen, wenn ich für diese Gesellschaft keine Theorie mehr habe?“ Bruno Flierl streitet ab, verbittert oder enttäuscht zu sein: „Vielleicht realistisch. Geschichte ist eben so.“ Am Sonntag wird er siebzig.

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