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Moleküle machen Depression

■ Gesichter der Großstadt: Der Gymnasiast Benjamin Kiesewetter streitet vor Gericht um die Befreiung vom Chemieunterricht. "Formeln beanspruchen zuviel Hirnkapazität"

Viele Schüler finden die Schule bescheuert, nicht wenige schwänzen sie auch mal. Aber gleich vor einem Gericht die Befreiung vom Unterricht einklagen, das machte bisher nur einer: Benjamin Kiesewetter, 17jähriger Gymnasiast aus Schöneberg. Er hält die Formelpaukerei in Chemie für so sinnlos, daß er sich kurzerhand zum Boykott des Faches entschloß. Das war im Februar 1996. Seither liegt er im juristischen Streit mit seinem Direktor und dem Landesschulamt.

In wenigen Wochen wird nun das Berliner Verwaltungsgericht entscheiden, ob der widerspenstige Schüler offiziell im Chemieunterricht fehlen darf oder nicht. Bis dahin herrscht eine Art Stillhalteabkommen – der Aufsässige nimmt vorerst am Unterricht teil, und die Schulbehörde verzichtet auf Zwangsmaßnahmen. Mit einer war sie nach einem gerichtlichen Widerspruch Kiesewetters bereits abgeblitzt. Seine Versetzung an ein anderes Gymnasium mußte rückgängig gemacht werden.

Während Kiesewetters Direktor schon über den vielen Streß jammerte, den ihm sein aufmüpfiger Pennäler bereitete, steckt der die ganze Aufregung lockerer weg. Auch der Vorwurf seiner Lehrer, er sei nur ein Wichtigtuer, ficht ihn nicht an. Als Boykottmotiv nennt er allein die mit der „sinnentleerten“ Büffelei verbundene „Zeitverschwendung“. Der von den chemischen Gesetzen Drangsalierte ist überzeugt, daß er das eingepaukte Wissen nie wieder brauche. Als Beweis präsentiert er eine Blitzkontrolle von 20 Lehrern seiner Schule, die er nach der Summenformel der Alkane fragte. Ergebnis: Nur einer wußte die richtige Antwort. Daraufhin hatte der damalige Zehntkläßler in einem seitenlangen Papier seinen Protest gegen das „Zwangslernen“ erklärt und gleich praktisch gehandelt. Die Welt der chemischen Formeln mußte fortan auf Benjamin Kiesewetter verzichten (mit Billigung der Mutter des Delinquenten).

Diese Art von Schülerselbstbewußtsein gefiel der Leitung des Robert-Blum-Gymnasiums nicht. Noch bevor sie mit dem Rausschmiß des Rebellen gescheitert war, hatte sie deshalb mit Tricks versucht, ihn zu erweichen. Kurzerhand war Kiesewetters Lieblingslehrer im Chemieunterricht eingesetzt worden – doch der Boykotteur blieb unbeeindruckt. Schließlich ist er ein Überzeugungstäter und als solcher mit seinen jungen Jahren schon ein Widerstandsprofi. Bereits vor der Bundestagswahl 1994 war der damals 14järige vor das Bundesverfassungsgericht gezogen, um gegen eine Altersbegrenzung beim Wahlrecht zu klagen. Allerdings wurde die Klage gar nicht erst zugelassen. Zu abstrus schien den Verfassungsrichtern die Forderung, die freilich auch von Jens Reich, Gregor Gysi und dem Psychologen Hans-Joachim Maaz unterstützt wird. Genauso radikal sind die Ansichten zum Thema „Lernen“, die Kiesewetter und die anderen Jugendlichen der Kinderrechtsgruppe K.R.Ä.T.Z.Ä. vertreten. Die Gruppe unterstützt den Unterrichtsboykotteur in seinem Prozeß. „Niemand darf zum Lernen gezwungen werden“, finden die Kinderrechtler. Sonst entstünden nur Denkblockaden. Die Folge seien inzwischen so alltägliche Schülerprobleme wie Depressionen und Drogenkonsum. Was Benjamin nicht aus eigener Erfahrung kennt, weiß er aus Studien. Reihenweise zitiert er Pädagogen, Hirnforscher und Psychologen. Obwohl er den Soziologenslang bereits gut beherrscht, macht er keineswegs den Eindruck eines durchgeknallten Frühintellektuellen. Dafür halten ihn auch seine Mitschüler nicht, schließlich sehen viele genauso wenig Sinn in der Paukerei. Geschickt kontert der Protestler übrigens den Einwand, daß er vielleicht noch gar nicht wissen könne, was er im Leben einmal bräuchte: „Das weiß natürlich niemand, auch nicht die Lehrer mit ihren zwanzig Jahre alten Lehrplänen.“ Eines weiß er dagegen mit Sicherheit, nämlich daß „der Chemieunterricht für mich eine Lernbehinderung darstellt, auch weil er Platz in meinem Gehirn beansprucht, den ich gerne mit anderen Dingen belegen würde.“ Zum Beispiel mit Bücherschreiben. Benjamin, der später „garantiert nichts mit Chemie“, sondern eher etwas in Richtung Journalismus machen will, arbeitet gerade an einem Buch über die Probleme der Schule.

Mittlerweile gastiert er schon in Talkshows – die Honorare dafür werden für den Rechtsstreit gebraucht –, und auch Vortragsreisen sind ihm nicht fremd. Doch der Schulgegner weiß: „Reden darfst du über alles, aber wenn du dich nach deinen Überzeugungen verhältst, hört die Toleranz auf.“ Gunnar Leue

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