: Ideologische Kanonen gegen freche Spatzen
■ Wie das MfS rund um die Biermann-Ausbürgerung 1976 mit der kritischen Intelligenz in Jena umsprang: S. Reiprichs Bericht über die „normalen“ Schikanen
„Wir haben kein Recht gebrochen“, verblüffte Erich Mielke in einen Spiegel-Interview 1992. Läßt man Manfred Krugs Bestseller „Abgehauen“ (Econ 1996) vor dieser Folie Revue passieren, könnte man dem Satz glatt etwas abgewinnen.
Mit 20 Jahren Verspätung dokumentiert Krug ein vertrauliches Treffen zwischen dem als Honecker-Thronfolger gehandelten Werner Lamberz und zwölf Schriftstellern und Künstlern, bei dem Staatsführung und Biermann- Petitionisten im November 1976 ihre Haltungen sondierten. Der heimliche Mitschnitt dieser „Aussprache“ im Hause Krug und die flottgeschriebenen Tagebuchnotizen geben einen beachtlichen Einblick in die staatliche Kungelei mit Künstlern. 32 Tage und einige aufschlußreiche Bekehrungsversuche dauerte es von Krugs Antrag auf Ausreise bis zu deren Genehmigung durch Lamberz.
Der alltägliche Umgang mit Andersdenkenden jenseits des Schutzfaktors Prominenz war ein ganz anderer in der DDR. Den beschreibt Siegfried Reiprich, der heute als Geophysiker in Potsdam arbeitet, in einer an Spannung dem Krugschen Bestseller ebenbürtigen autobiographischen Dokumentation. Es ist die Geschichte seiner Exmatrikulation 1976 und seines politisch motivierten Ausbildungsverbots in der DDR.
Im ersten Teil dokumentiert Reiprich die absurde Logik einer Inquisition gegen sich, einen Philosophiestudenten im ersten Semster an der Jenaer Universität, der durch das Studium des Marxismus/ Leninismus die sozialistische Gesellschaft mitgestalten und ihre Widersprüche lösen helfen wollte.
Wie Jürgen Fuchs, ein knappes Jahr zuvor von der gleichen Universität exmatrikuliert, hielt auch Reiprich in Gedächtnisprotokollen die menschenverachtenden Rituale der Macht und ihre Sprache fest, mit der „auf freche Spatzen mit ideologischen Kanonen geschossen wurde“.
Der Hintergrund: Jena galt bereits zwei Jahre vor der Biermann- Ausbürgerung als „feindlich negatives Zentrum“, weil hier junge Leute ihre Träume von einem undogmatischen Sozialismus diskutierten und austesteten. Die Exmatrikulation von Jürgen Fuchs, Siegfried Reiprich und kurz darauf von Lutz Rathenow zeigten nicht die erwarteten Verunsicherungseffekte. Dazu bedurfte es in Jena erst acht Verhaftungen von Biermann- Sympathisanten, jeweils neun Monate U-Haft, zahlreicher Hausdurchsuchungen und Verhöre im Freundeskreis. Im Mittelteil erzählt Reiprich atmosphärisch die Vorgeschichte seiner Exmatrikulation, die Dekonspiration des Versuchs seiner Anwerbung durch das MfS, die „Zersetzung“ des Arbeitskreises Literatur um Lutz Rathenow mit Fuchs, Biermann und Robert Havemann im Hintergrund.
Der dritte Abschnitt ist ein spannend zu lesendes Stück Zeitgeschichte über die Verflechtungen bei der Verhinderung der Wiederaufnahme seines Studiums und die „Bewährung in der Produktion“ in einem gesundheitsschädigenden Bereich des Glaswerkes Jena Schott. Er bietet bemerkenswerte Einblicke in kollektive Zusammenhalte und beschreibt die latente, staatlich betriebene Ausländerfeindlichkeit gegenüber den Arbeitskräften aus den „sozialistischen Bruderländern“. Aktenauszüge belegen die skrupellosen Methoden, mit denen seine Frau Christine und er über Jahre kriminalisiert werden sollten, wie er durch gezielte Gerüchte über eine inoffizielle Stasi-Mitarbeit isoliert wurde und darüber, wie die Konstruktion des Straftatbestands „staatsfeindliche Gruppenbildung“ mißlang. „Wie sich heute aus den Akten schlußfolgern läßt, war im Frühjahr 1981 nicht klar, ob wir nicht doch in den Knast gehen würden.“ Statt ihrer wurden deshalb zur Abschreckung andere oppositionelle Freunde inhaftiert. Einer von ihnen, der Jenaer Matthias Domaschk, starb am 12. April 1981 in einer Stasi-U-Haft-Zelle in der Bezirkshauptstadt Gera. Die Todesumstände liegen bis heute im dunkeln. Diese „Geschichte eines politischen Verbrechens“ und die Schwierigkeiten, es aufzuklären, dokumentiert Renate Ellmenreich und kann vom Landesbeauftragten für Stasi-Unterlagen, Bergstraße 3, 99092 Erfurt bezogen werden.
Siegfried Reiprich und seine Frau bekamen am 13. August 1981 unerwartet die Aufforderung zur Ausreise. Das stasiinterne Kalkül dabei: der Ausgebürgerte werde aufgrund seiner „idealisierten Vorstellungen von der Westlinken“ und den zu erwartenden Anpassungsschwierigkeiten scheitern. Die Rechnung ging in Hunderten Fällen auch auf. Im Fall Reiprich aber sollten die „Organe“ keinen Erfolg verbuchen. Statt dessen dokumentiert er in seinem Buch „Der verhinderte Dialog“, wie Mißtrauen, Toleranzunfähigkeit und die kriminelle Kreativität im DDR-Apparat den Niedergang des Gesellschaftssystems auslösten. Udo Scheer
Siegfried Reiprich: „Der verhinderte Dialog“. Dokumentation, Schriftenreihe des Robert-Havemann-Archivs 3, (Schliemannstr. 23, 10437 Berlin), 160 S., 14,80 DM
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