: Süßer Singsang zum Schafott
■ Verschenkt: Das Theater N. N. spielt, singt und tanzt allzu brav Joshua Sobols „Ghetto“
„Unsere letzte Vorstellung: Nicht einmal Stehplätze mehr“, erinnert sich der dürre Mann beim Abhängen des roten Vorhangs. Es hatten Leute gespielt und applaudiert, die wußten, daß sie am kommenden Morgen abtransportiert werden würden; Bewohner des jüdischen Ghettos in Wilna, die längst Gefangene, sichere Todeskandidaten ohne Prozeß waren. „Wunderbare Stücke“ seien das gewesen, schwelgt der Mann onkelhaft im jiddischen Singsang, „alle verloren gegangen.“ Von oben regnet es Kleiderberge. Dann ein Schuß, gleißendes Licht, Zeitsprung. In der Rückblende sieht das Publikum die Geschichte einer Gruppe jüdischer Künstler, die 1941 um Leben und Tod spielt.
Joshua Sobols Ghetto wurde 1984 in Haifa uraufgeführt und eroberte innerhalb kürzester Zeit die Bühnen der westlichen Welt. Mit dem Stück gelang Sobol, was in der Postmoderne fast schon unmöglich schien: ein Theaterereignis, das vehemente politische Diskussionen nach sich zog. Der Israeli hatte es gewagt, Holocaust-Opfer auch als Täter auf die Bühne zu stellen und das Leben im Ghetto als Musical zu inszenieren. Die wehmütigen jiddischen Liedl werden durch ein jazziges Saxophon des SS-Aufsehers aufgemischt.
Regisseur Dieter Seidel, der mit dem Theater N. N. Ghetto in der Fabrik inszeniert hat, fehlt leider der Mut zur Provokation, der Mut zum Bösen. Fast um Naturalismus bemüht, läßt er die Schauspieler mit jiddischem Akzent reden und beim Erklingen der Liedl unglaubwürdigen Erinnerungsschmerz in die jungen Gesichter treten. Doch Mitleid ist das letzte, worum es in Ghetto geht. Vielmehr wird die Ambivalenz von Täter-Opfer-Beziehungen thematisiert, exemplarisch am jüdischen Polizeichef Gens, der Liquidationen persönlich organisiert, um andere Juden retten zu können. Seidel stellt mehr den mit den Nazis kollaborierenden Schneider in den Vordergrund, der jedoch so schleimig gespielt wird, daß die Figur eindimensional und reizlos wird.
Die Fabrik bietet als „Nicht-Theater“ einen guten Raum für die Inszenierung. Die Thematik scheint für die Gruppe allerdings zu komplex und wird in der dreieinhalbstündigen Aufführung immer diffuser. Es bleibt unklar, worauf das ganze hinauslaufen soll; dramaturgisch ist die letzte Stunde eine Wiederholung in Variationen. Das Publikum wird den Verdacht nicht los, daß das Stück vor allem deshalb auf die Bühne gebracht wurde, damit die Darsteller ihre Stage-School-Ausbildung in Gesang und Tanz vorführen können. Doch die Choreographien sind zu schön für's Ghetto und zu brav für Ghetto. Eine schrille Travestie des Tabus hätte zumindest für positive Irritation gesorgt. So aber bleibt die Aufführung der Vergangenheit verhaftet: bei der Ghetto-Darstellung nostalgisch und bei der Inszenierung etwas überholt.
Christiane Kühl
Nächste Vorstellungen: 9., 13., 16., 20., 23. Januar, 20 Uhr, Fabrik
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen