: Zoff im Paradies
Viele Ökotouristen verschlägt es ins Tropenparadies Belize. Sogar der Himmel auf Erden wird manchmal zur Ellenbogengesellschaft ■ Von Marc Bielefeld
Schuhe hat Russel nie in seinem Leben besessen. Die braucht er auch nicht. Auf Cay Caulker, der kleinen Palmeninsel vor der Küste von Belize, gibt es keine Straßen. Nur Sandwege. Und sein Heimateiland hat Russel erst einmal verlassen, um mit dem Boot für einen Tag ins 20 Kilometer entfernte Belize City zu fahren. Das war vor zehn Jahren. Von der Stadt will er nichts wissen. Zu viele Reiche und zu viele Arme, zu viele Autos und zuviel Gicht. Russel erzählt lieber vom Rastafari-Segen und vom Meer, das sich – mal blau, mal grün, mal türkis, meistens alles in einem – direkt vor seiner Nase ins Endlose erstreckt. Genau deswegen kommen schließlich die Touristen. Vor der Küste von Belize, dem kleinsten Land Mittelamerikas, erstreckt sich das zweitgrößte Barriereriff der Welt, das man schwimmend, schnorchelnd oder tauchend und schon für eine Handvoll Dollar per Boot erobern kann.
Fast stündlich kommen Speedboote vom Festland und laden häufchenweise Gringos an den wackeligen Holzstegen ab. Junge Amerikaner, Kanadier und Europäer balancieren dann – gern als Pärchen – mit vorsichtigen Schritten gen Insel, meist mit schwerem Marschgepäck und einem Rucksack. Der Katalog hatte recht – wir sind im Paradies! Palmen, Papayas und echte Insulaner. Ab sofort gilt: Alles cool und easy, life is doch a beach. Und wer's nicht fassen kann, dem wird per Straßenschild nachgeholfen. Da steht ausdrücklich „Go slow!“ drauf. Wie heißt der Spruch auf den Werbe-T-Shirts noch – „You better Belize it“.
Russel erzählt von seinem Boot. Früher ist er damit raus ans Riff gesegelt und hat staunende weiße Menschen durch das klarste Wasser geschippert, das sie jemals gesehen haben. Davon konnte er ganz gut leben. Er fuhr sie bis zu den Stellen, wo das Meer flach wird und Korallen von unten bunt heraufleuchten. Wo Rochen und kleine Haie umherschwimmen. Wo es Conchs und Lobster gibt. Die Muscheln und der Hummer sind die Leckerbissen auf den Inseln – erstens schmecken sie gut, und zweitens verkaufen sie sich noch wesentlich besser.
Heute darf man Hummer nur noch in der Fangsaison aus dem Meer holen, und wer die Conchs – die schönen Muscheln – aus dem Meer holt, geht eine Woche in den Knast. Viele Fischarten wurden schon seit Jahren nicht mehr gesehen, weil zu viele Motorboote zu viele Schnorchler absetzen. Die Korallen sind an vielen Stellen auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Sie sind tot.
Nicht daß Russel die Fische und das Riff besonders interessieren würden, aber auch er mußte seinen Preis zahlen. Eines Tages wollte er wieder rausfahren, aber sein Boot war abgesoffen. Einfach so. „Glaub's mir, auch die Belizer können einen erstaunlichen Geschäftssinn entwickeln. Um eine Handvoll Gringos mehr ans Riff zu fahren, tun die alles“, meint Russel – „and you better believe it!“
Belize ist wirklich wie das Paradies. Aber eben ein Paradies auf Erden, und da scheint immer irgendwie was schiefzulaufen. Als der Ökotourismus Mittelamerika entdeckte und immer professioneller vermarktet wurde, wollte natürlich auch das kleine Belize einen Teil vom Kuchen. Broschüren und ein Belize Tourist Board waren schnell zur Hand. Viele Rucksackmenschen kamen, sahen und waren begeistert. Die beiden größten Inseln von Belize – Caye Caulker und Ambergris Caye – leben heute ausschließlich von den Dollars der Devisenbringer. Die meisten Touristen landen hier. Die Einheimischen vermieten Hütten, betreiben Restaurants, fahren zu Boots- und Schnorcheltouren, arbeiten in Ressorts und organisieren Tauchausflüge.
Die Belizer wußten gar nicht, was alles in ihnen steckt. Sie ahnten nicht, wie listig, argwöhnisch und clever sie eigentlich sein können. Als dann die staunenden weißen Menschen aus fernen Ländern kamen, reagierten sie jedoch schnell und scharfsinnig. Bald erkannten sie den Vorteil eines größeren Sonnensegels auf ihrem Boot, die Zugkraft eines schnelleren Motors bei den Ausflüglern und die Macht und den Sieg des Hartnäckigen, wenn es darum geht, Kundschaft zu werben. Auch in Belize gewinnt der, der am lautesten schreit. Und sie lernten, daß es auch schon mal notwendig ist, einen wie Russel aus der Gemeinschaft auszustoßen. Geschäft ist eben Geschäft, und ein Boot weniger ist ein Boot weniger.
Auf Caye Caulker, dem Palmenparadies, weht neben dem weichen Nordostpassat noch ein härterer Wind. Der alte Ignácio hat seine Hütten am Südende der Insel ordentlich in Schuß gebracht und vermietet sie gut. Wenn wieder neue Kundschaft per Motorboot aus Belize City kommt und ihm erzählt, sie suche eine Unterkunft für eine Woche, entspringt ihm ein langgezogenes „Aha!“. Dann kassiert er im voraus, bezieht zwei Betten und arbeitet weiter, emsig wie eine Biene.
Seine Frau hütet indes Kinder und Grundstück, und wenn Russel zufällig mal vorbeistreunt, kann es schon mal sein, daß sie ihren Besen schnappt und Russel wild gestikulierend davonjagt. Über die kleinen Zäune – meistens nur aufgereihte, aufgehäufte Muschelschalen – darf hier nicht jeder. Alles soll seine Ordnung haben, und dabei geraten selbst die sanftmütigen Insulaner manchmal kräftig aneinander. Im Norden der Insel, wo ein anderer seine Hütten vermietet, war Ignácio schon seit Jahren nicht mehr. Dabei trennen beide höchstens 500 Meter Sand.
Auch auf Tobacco Caye, einer winzigen Insel weit draußen im Süden des Barriereriffs mitten im blauen Meer, wird wenig gesprochen. Nicht etwa weil der Anblick der Palmen und des endlos glitzernden Ozeans einem tatsächlich die Sprache verschlägt, sondern weil die Inselbewohner sich meiden. Auf einem kleinen Sandfleck mitten im Meer, ohne Strom, rund und kleiner als ein Fußballfeld. Elwood am Südende rümpft die Nase, wenn er auf Josephine und ihre schönen weißgestrichenen Stelzenbungalows angesprochen wird, die 40 Meter weiter liegen. Und Josephine am Nordende redet nicht gern über Elwood, wenn sie darauf angesprochen wird, warum er einen Steg hat und sie nicht. Dämliche Touristen, denkt sie dann, was kann ich dafür, wenn bei mir das Riff so nah ist, daß ich keinen Steg bauen kann!
Swayze hat's gut. Er hat eine kleine Bar mitten auf der Insel, mitten unter den zehn Familien, die hier leben und die wenigen Reisenden unterbringen, die sich, aus welchem Grund auch immer, nach Tobacco Caye verirren. Swayze lacht immer. Genauso wie seine Frau. Er hat immer kühle Getränke, liebt seine Insel und spielt Musik. Bis Sonnenuntergang. Dann wollen die anderen auf der Insel Ruhe. Wenn man Swayze fragt, warum der eine da hinten einen Zaun um seine Hütte legt, weiß auch Swayze keine rechte Antwort. „Die kennt nur der Wind“, lacht er. „Ich habe ihn lange nicht gesprochen. Außerdem mag er es nicht, wenn ich meine Getränke an euch verkaufe.“
Schönes Belize. Paradiesisches Belize. Verrücktes Belize. Häßliches Belize. Russel hat sich inzwischen einen neuen Beruf gesucht. Er ist Schauspieler geworden. Und darin ist er mindestens so gut wie früher als Bootsmann. Er ist jetzt Rastamann, Ganjah-Mann, barfüßiger Inselindianer, Pirat, Wegweiser, Conch-Geschichten-Erzähler, Bettler, Crackraucher, Inselguide, gottverliebter Freund des Ozeans, Delphintaucher, Ornithologe oder Pflanzenkenner. Er spielt halt immer das, worüber die Menschen aus den fernen Ländern staunen möchten. Er ist immer gerade das, wofür sie ihm mal ein, zwei Dollar schenken oder ihn auf ein Belikin – das einheimische Bier – einladen. Oder ihm ein Paar alte Schuhe dalassen.
Die hebt er sich jetzt allerdings gut auf. Denn eines hat er gelernt. Das Paradies ist keins. Und wenn er mal wieder auf den Ozean starrt, ganz lange ohne zu zwinkern, und von seinem Boot träumt, denkt er manchmal vielleicht selbst über das schöne Belize: „You better leave it.“
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