: Pulitzer-Preis für amerikanische Touristin
In Amerika ein Renner, in Deutschland seit gestern auf dem Markt: Tina Rosenbergs tendenziöses Melodram über Polen, die ČSSR und die DDR nach der Wende. Die Täter entdeckt sie mit Sympathie und wertet sie zu Opfern um ■ Von Udo Scheer
Es ist schon ein Wagnis, unkundig der Forschungen und unkundig der Sprachen einen Panoramablick über die Wende in den Ostblockstaaten ab 1989 anzubieten. Gewagt hat es Tina Rosenberg, Jahrgang 1960, Journalistin und Politikwissenschaftlerin mit Wohnsitz in New York. Ihr Erfolgsrezept: Dutzende von Zeitzeugenporträts und Interviews vor der Folie der Ereignisse ablaufen zu lassen, dazu erstaunliche Kommentare aus transatlantischer Draufsicht. Mit dieser lockeren Methode traf sie den Geschmack der US-Intellektuellen. Für „The Haunted Land“ bekam sie 1996 den begehrten Pulitzer-Preis. Seit gestern ist ihr Bestseller auch in deutsch zu haben.
Ihre Recherchen – immer in Begleitung von wechselnden Dolmetschern wirken zufällig. So verfolgte sie in Berlin den Prozeß gegen die Mauerschützen von Chris Gueffroy und war von den Ereignissen so fasziniert, daß sie bis 1993 mehrere Reisen nach Prag, Warschau und immer wieder nach Berlin folgen ließ. Daraus entstanden die drei – miteinander unverknüpften – Teile: „Tschechoslowakei“, „Polen“ und „Deutschland“.
Die tschechische Abteilung durchzieht ein Porträt des Wirtschaftswissenschaftlers Rudolf Zukal, Informant des tschechischen Geheimdienstes bis 1961, seit 1968 Dissident, Planierraupenfahrer und 1990 aus dem Parlament entfernt. Der Leser darf Anteil nehmen und im Einvernehmen mit Vladimir Stern, einem der Gründer des ČSSR-Geheimdienstes, erzählt die Autorin: „Die Tschechoslowaken hatten die StB als einen furchtbaren Apparat beschrieben. Doch es stellte sich heraus, daß dieser Apparat mit dem Ende des Stalinismus (!) verschwunden war.“ Sie findet zwei StB-Offiziere, die ihr das wahre Wesen dieses Dienstes erklären: Die Mitarbeiter seien „schlecht ausgebildete Bürohengste, die jeden Tag den Feierabend herbeisehnten, damit sie sich anschließend in einer Schlange anstellen konnten, wenn gerade guter Schnaps oder Parkas in Kindergrößen zu haben waren“. So plappert Tina Rosenberg über ein Land, das neben Ungarn die beste Versorgungslage im sozialistischen Lager aufweisen konnte.
In Polen galt ihre unverhohlene Sympathie dem Exgeneral Jaruzelski. Einmarsch hin, Einmarsch her, dieser Mann habe mit dem Kriegsrecht den Kreml vor Solidarność und Solidarność vor dem Kreml geschützt. Und dann rutscht ihr durch, was sie von dieser Bewegung hält: „Er merzte zwar die Solidarność aus, das Symptom, das Krebsgeschwür, aber nicht die Krankheit selber.“ Stellvertretend für dieses „Krebsgeschwür“ läßt sie den einstigen Solidarność-Sprecher Adam Michnik zu Wort kommen, nicht ohne aber zu unterstreicht, wie sehr Jaruzelski und er heute befreundet seien. Damit ist für sie der journalistischen Sorgfaltspflicht Genüge getan. „Die Mythen über die Vergangenheit werden ständig umgeschrieben, um auf der Höhe der Debatte zu sein. Fakten und Zusammenhänge treten in den Hintergrund.“ So belehrt sie die Leser und informiert ungewollt über ihre eigene Vermarktungsstrategie: Nicht Fakten, sondern Legenden sind in, und die transportiert sie munter.
Zu ihrer Hochform läuft die Journalistin in der deutschen Abteilung auf. Erlebte Geschichte wird zum Supermarkt, und sie bedient sich nach Laune und Geschmack, unverhohlen mit großer Sympathie für die Täter und Abscheu vor der „westdeutschen Siegerjustiz“. Ihr einleitender Gerichtsbericht trieft vor Verständnis für die Mauerschützen. Zuvor schildert sie dramatisch den versuchten Grenzdurchbruch von Chris Gueffroy und Christian Gaudion – weil die mit Mädchen in hübscheren Tanzlokalen ausgehen wollten –, und sie steigt hinein in die Psyche der Angeklagten, interviewt sie und kommt zu dem Schluß: „Die vier Grenzsoldaten waren ganz normale DDR-Bürger ... Jeder wußte, daß er genauso gehandelt hätte.“ Von hier bis zur Feststellung, daß der Mauermord „keine außergewöhnlich schlimme Tat“ war, ist es logischerweise dann nicht weit. An die Mutter des Opfers stellte sie keine einzige Frage.
Verständlich, poliert sie doch den Mythos auf: „Noch 1989 glaubten zahlreiche Bürger fest an ihre Regierung.“ Kein Wort über den Wahlbetrug und die sich steigernden Proteste. „Viele fühlten sich von der Ellenbogenmentalität und dem Konsumdenken der Bundesbürger abgestoßen und waren dem Kommunismus dankbar, daß er aus ihnen Ossis und keine dicken, selbstgefälligen, biertrinkenden Wessis gemacht hatte.“ Krauts, fleischfressende, biersaufende, fette Nazis, dürfte bei manchem Amerikaner da wie eine Pawlowsche Birne aufleuchten und den Umsatz der „Rache“ steigern. Nein, so waren die „Ossis“ nicht.
Sie waren die Guten, die Schwächeren, die Befehle befolgten. Ihnen gehört Tina Rosenbergs ganze Wärme. Und sie gehört Knud Wollenberger, dem Mitbegründer des Pankower Friedenskreises, einem liebevollen Vater, der Bienen züchtete, Gedichte schrieb und Berichte – auch über seine Frau Vera – nur „um die Stasi zu beeinflussen, das Land zu reformieren“. Tina Rosenberg und er essen zusammen Walnüsse aus ökologischem Anbau, und der Leser sucht vergebens nach Vera Lengsfelds Sicht auf die Gründe für ihre Scheidung.
Sympathisch, erklärt die amerikanische Journalistin, sei ihr Joachim Gauck, „ein Ebenbild James Garners mit geradem Blick und einer Vorliebe für flotte Zweireiher“. Außerdem komme er nicht aus der Dissidentenbewegung mit ihren Sandalen, habe gute Manieren. Ihre „wahre Zuneigung“ gilt jedoch einem anderen: „Der gegen die Regierung der DDR gerichtete Protest im Oktober 1989 hatte viele Redner, doch der faszinierendste war Markus Wolf, der auf dem Plakat der Kundgebung als Schriftsteller geführt wurde.“ Man sehe über kleine Unschärfen hinweg, etwa daß es sich bei seiner ausgebuhten Rede um die Veranstaltung am 4. November auf dem Berliner Alexanderplatz handelte und daß der „faszinierendste“ Mann im Schulterschluß mit Mielke „Aufklärung und Abwehr“ als Einheit verstand, etwa gegen kirchliche Westkontakte, was den glorifizierten Wolf dem gemeinen Stasi-Mann gleichstellt.
Quellenforschung ist die Sache dieser Reporterin nicht. So plaudert sie in puncto Stasi munter weiter. Von den 70.000 Montagsdemonstranten am 9. Oktober in Leipzig seien rund 40.000 MfS- Mitarbeiter und IM gewesen – eben die Reformkraft! und sie folgert: „Die übrigen 30.000 müssen sich fragen lassen, ob sie nicht fremdgesteuert waren.“ Frei an den Fakten vorbei – Urlaubssperre für potentielle Demonstranten, Bereitschaftskräfte für den blutigen Einsatz – ist dieser Unsinn nur noch vergleichbar mit der Behauptung, in der BRD würden Scientologen wie Juden verfolgt.
Ortswechsel Berlin Normannenstraße: „Die Demonstranten, rund 50.000 (!) Menschen rannten die Treppen des Gebäudes hoch. Was sie in den Zimmern fanden, benahm ihnen den Atem. Die Telefone der gefürchteten Stasi stammten aus den frühen fünfziger Jahren. Es gab Spinde, vollgepackt mit Fleischkonserven und Orangensaft. – Orangensaft! ... Sie betranken sich am Orangensaft ... und demolierten die Aktenschränke. Aus den Bürofenstern flogen Stasi-Akten nach unten.“ – Soweit ihr Bild über Bürgerrechtler, bevor sie angefangen haben sollen, die Akten in Zeitungspapier einzuwickeln und – wir staunen – aus 600 Gebäuden zusammenzutragen.
Krauser Tobak springt den Leser alle paar Seiten an, dazu wundersame Zahlen und abenteuerlich verkürzte Thesen, wie die, daß die „deutsche Säuberung“ (!) im Osten ihr Motiv darin habe, bei „knapp 40 Prozent Arbeitslosenquote“ eine „Goldgrube für arbeitslose Wessis“ zu sein. Die Ostdeutschen dagegen: „Eine Nation (!) von Menschen, die in Autobussen aneinander vorbeisahen, wird jetzt verzehrt von dem Bedürfnis, ihre Seelen bloßzulegen ... mit der Vergangenheit abzurechnen, in einer wahren Orgie von Geständnissen und Tränen.“ Tina Rosenberg wird nicht nachdenklich, als sie in ihrem Supermarkt der unerhörten Geschichten eine Ecke weiter auf Carlo Jordan und seine Umweltgruppe trifft und zusieht, wie der versucht, mit einem Ex-IM Vergangenes zu klären. In ihrem Sprachunempfinden „Vergangenheitsbewältigung“.
Die „Orgie von Geständnissen“ scheiterte an permanenten Lügen des IM. Macht nichts. Die Verkünderin steht über den Dingen. Geschichte ist ihr Wühltisch. Wir ahnen, sofern uns bei ihrer Schnäppchenjagd noch nicht schwindelig geworden ist, es waren wohl doch zu viele Gespräche mit den wahren Opfern, den MfS-Offizieren und Inoffiziellen Mitarbeitern. Und wir ahnen, wie leicht Stasi-Viren und die Faszination gegenüber den Tätern noch Jahre nach dem Mauerfall infizieren können. Vermutlich ist dies die tiefere Botschaft ihres Buches. Tina Rosenberg hindert nichts an der Feststellung: „Die Ideologie des Nationalsozialismus wurde nur teilweise über Bord geworfen“, weshalb alle deutschen Versuche, die Vergangenheit aufzuarbeiten, scheiterten – „das Fundament eines neuen Totalitarismus in Deutschland“. Ihr Knicks vor dem amerikanischen Klischee über Deutschland hindert sie selbstredend nicht, zehn Seiten weiter staunend das Gegenteil festzustellen: „Aus irgendeinem Grund wurde das totalitäre Denken ausgemerzt.“ – Ja, was nun?
Ein peinliches Buch in einer peinlichen Sprache und obendrein nachlässig übersetzt. Fehler wie „Ausschuß“ statt „Amt für Nationale Verteidigung“ und falsche Funktionszuschreibungen und Datierungen zuhauf. So verstärkte der Verlag, was er bestimmt nicht beabsichtigte: nämlich vorzuführen, wie dumm eine junge altkluge Amerikanerin Geschichte ignorieren kann.
Tina Rosenberg: „Die Rache der Geschichte, Erkundungen im neuen Europa“. Übersetzt von Udo Rennert. Carl Hanser Verlag, München 1997, 496 S., 49,80 DM
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